Soziale Dienste Psychiatrie:Mitten ins Leben

Soziale Dienste Psychiatrie: "Johanna und Sebastian" heißen die zwei Appartement-Häuser im neuen Vaterstettener Baugebiet Nord-Ost. Sie bieten Platz für 68 Bewohner.

"Johanna und Sebastian" heißen die zwei Appartement-Häuser im neuen Vaterstettener Baugebiet Nord-Ost. Sie bieten Platz für 68 Bewohner.

(Foto: Christian Endt)

In der Neubausiedlung Vaterstetten Nord-Ost sind 43 Menschen mit unterschiedlichen psychischen Problemen eingezogen. Wie sich über die Jahrzehnte der Umgang mit Depressionen verändert hat.

Von Alexandra Leuthner, Vaterstetten

Es kann einem auf die Nerven gehen, das tägliche Kochen, das Herrichten des Frühstücks, das Staubsaugen oder Bettenmachen. Aber getan werden muss es. Also wird man trotz allem Unwillen den benötigten Topf aus der tiefen Schublade herausangeln, die Kaffeemaschine einschalten, den Staubsauger aus dem Keller schleppen, Bettdecken ausschütteln, die Kissen aufklopfen.

Wer aber eine Depression hat, der scheitert vielleicht schon daran, sich zu überlegen, was er kochen könnte, weil ihm die Konzentration fehlt. Der Gedanke daran, den Topf heraufzuholen, sein Gewicht spüren zu müssen, das Wissen darum, dass er erst den Stiel einer Pfanne zur Seite schieben muss, um an den Topf überhaupt heran zu kommen, wird ihn so anstrengen, dass ihm all das unüberwindlich erscheint. Er tut es nicht, weil er die nötige mentale und physische Kraft nicht aufbringen kann. Er hat vielleicht Kopfschmerzen oder Bauchweh. Dann wird eben nicht gekocht, gefrühstückt, Staub gesaugt. Am besten legt er sich wieder ins Bett und versucht zu vergessen.

Menschen mit langjährigen Depressionen können verlernen, wie es ist, ihr Leben zu leben

Menschen mit einer diagnostizierten Depression, die über eine depressive Phase hinausgeht, erleben solche Zustände täglich, immer wieder, vielleicht über Monate oder Jahre. Schließlich können sie verlernen, wie es ist, ihr Leben zu leben. Ohne Hilfe kommen sie aus dem Teufelskreis nicht mehr heraus.

Solche Menschen sind es, die in "Johanna und Sebastian" wohnen, zwei Appartement-Häusern, die im neuen Vaterstettener Baugebiet Nord-Ost stehen. 68 Bewohnern bieten die beiden Baukörper im Eigentum der Sozialen Dienste Psychiatrie seit April dieses Jahres ein Heim. Am Mittwoch dieser Woche sind sie offiziell eingeweiht worden. 43 "Klienten" sind bereits ein- beziehungsweise umgezogen. Sie waren vorher im Haus an der Dorfstraße untergebracht, viele von ihnen sind also schon seit Jahren Vaterstettener. Was für die Klienten aber etwas ganz anderes bedeutet als für Menschen ohne eine psychische Störung. Neben Depressionen sind es auch andere Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, welche einige der Bewohner mit sich herumschleppen, wie Michaela Weiß berichtet.

Soziale Dienste Psychiatrie: Zusammen mit vielen Ehrengästen wurde die neue Wohnanlage am Mittwoch eingeweiht. Michaela Weiß begrüßte sie.

Zusammen mit vielen Ehrengästen wurde die neue Wohnanlage am Mittwoch eingeweiht. Michaela Weiß begrüßte sie.

(Foto: Christian Endt)

Sie leitet seit zweieinhalb Jahren als Geschäftsführerin das Haus in der Dorfstraße, das dort seit 1994 Menschen aufnimmt, die aus stationärer Behandlung kommen und in ein normales Leben zurückgeführt werden sollen. Weiß hat jetzt auch die Verantwortung in Johanna und Sebastian übernommen, das am neuen Kotterweg liegt, Luftlinie vielleicht 250 Meter von der bisherigen Einrichtung entfernt. "Psychisch Kranke mögen keine Veränderungen", sagt Weiß. Ein Umzug aber, und sei es auch nur einer innerhalb der selben Ortschaft, könne solchen Menschen Angst machen, ihnen das Gefühl geben, den Halt zu verlieren, auch wenn das Neue mit einer Verbesserung verbunden ist. So haben alle Klienten im neuen Haus jetzt ein Appartement für sich, eine eigene Klingel, eine eigene Küche. Vorher mussten sich Besucher zentral anmelden, etliche der Klienten mussten sich ein Zimmer mit einer Mitbewohnerin oder einem Mitbewohner teilen. "Viele haben darunter gelitten", sagt Barbara Portenlänger-Braunisch, Gesellschafterin der Sozialen Dienste und langjährige Geschäftsführerin, "das muss man auch aushalten."

Soziale Dienste Psychiatrie: Offizielle Schlüsselübergabe: Geschäftsführerin Michaela Weiß, Architekt Alexander Bauer mit Kollege Sven Becker und Barbara Portenlänger-Brauner, Gesellschafterin der Sozialen Dienste (von links).

Offizielle Schlüsselübergabe: Geschäftsführerin Michaela Weiß, Architekt Alexander Bauer mit Kollege Sven Becker und Barbara Portenlänger-Brauner, Gesellschafterin der Sozialen Dienste (von links).

(Foto: Christian Endt)

Aushalten müssen die Mitarbeiter der Geschäftsführung, die noch in einem Gebäude des früheren Bauernhofes an der Dorfstraße untergebracht ist, den Baulärm, der mit dem Auszug der bisherigen Bewohner begonnen hat. Schon beim Hineinfahren in den Hof sieht man die Baumaschinen, die vor dem früheren Eingang zum Wohngebäude in Stellung gebracht sind. Dort, wo lange Jahre Heimat für psychisch Entwurzelte war, sollen jetzt ganz normale Wohnungen entstehen. Der Mietvertrag für das Gebäude sei ursprünglich nur für 20 Jahre abgeschlossen und dann immer wieder verlängert worden, berichtet Portenlänger. Und sie betont, wie dankbar sie und die Verantwortlichen gewesen seien, dass der Vermieter vor beinahe 30 Jahren das Wagnis eingegangen ist, seine Räume einem Verein ohne großes Grundkapital für den guten Zweck zur Verfügung zu stellen.

Mit Kosten von sechs Millionen Euro hatte man vor zehn Jahren gerechnet, jetzt sind es 15 Millionen geworden

Doch zum absehbaren Auslaufen des Mietverhältnisses kam einiges hinzu: veränderte Bandschutzanforderungen, gestiegene Ansprüche der Bewohner, veränderte Vorgaben der Heimaufsicht und nicht zuletzt der eigene Wunsch, den Bewohnern mehr Eigenverantwortung und Privatsphäre zu ermöglichen. Eine neue Lösung wurde gebraucht. Weshalb 2012 begonnen wurde, nach einem Baugrundstück zu suchen, berichtet Portenlänger. 2020 war dann mit dem Bau begonnen worden. Mit Kosten von sechs Millionen Euro hätten die Planer vor zehn Jahren noch gerechnet, erzählt sie, letztendlich seien es 15 Millionen Euro geworden, die die gemeinnützige GmbH Soziale Dienste Psychiatrie in Grundstückserwerb und Neubau investiert hat. Ein günstiger KfW-Kredit für energieeffiziente Bauweise hatte geholfen, drei Stiftungen, darunter der SZ-Adventskalender mit einem sechsstelligen Betrag, waren an der Finanzierung der Außenanlagen und der Einrichtung beteiligt. "Die alten Möbel mitzunehmen wäre mir ein Graus gewesen", sagt Portenlänger.

Wenn schon Neuanfang, dann richtig, schließlich gehe es im neuen Haus auch noch weit mehr als früher um Hilfe zur Selbstständigkeit."Hier in der Dorfstraße war es doch noch mehr Beheimatung", sagt Geschäftsführerin Weiß. Heimat war es allerdings auch. "Hier haben die Klienten viel Zeit verbracht, gemeinsam gefeiert, Freunde kennen gelernt", das bleibt im Gedächtnis haften. "Der Erste wollte nach dem Mittagessen am ersten Tag im neuen Haus dann auch gleich wieder zurück", erzählt sie. Inzwischen, nach knapp drei Monaten, nachdem der Garten und die Außenanlagen grün sind, Bäume gepflanzt, hätten sich aber alle Klienten eingewöhnt.

Soziale Dienste Psychiatrie: Vor zehn Jahren haben Barbara Portenlänger und die Verantwortlichen der Sozialen Dienste Psychiatrie angefangen, nach einem Ersatz für das Haus an der Dorfstraße (im Hintergrund) zu suchen.

Vor zehn Jahren haben Barbara Portenlänger und die Verantwortlichen der Sozialen Dienste Psychiatrie angefangen, nach einem Ersatz für das Haus an der Dorfstraße (im Hintergrund) zu suchen.

(Foto: Christian Endt)

Das war vor knapp 30 Jahren, als das Haus an der Dorfstraße eingerichtet wurde und die ersten Bewohner aus einer geschlossenen Station im Bezirkskrankenhaus hierher verlegt wurden, nicht ganz so einfach. Bis dahin waren psychisch Kranke meist unterschiedslos in Großstationen großer Krankenhäuser versorgt worden. Viele von ihnen hatten Jahrzehnte in einer Klinik verbracht, wo sie in Räumen mit vielen Betten schliefen und sich einen Pfleger teilten, der vor allem dafür da war, auf sie aufzupassen. "Die sind ja nur aufbewahrt worden", erzählt Portenlänger. "Wie man ein Zimmer aufräumt, ein Frühstück macht, das haben die nicht gekonnt."

Eine geänderte Sichtweise auf psychische Krankheiten, sowie die Vorgabe, das Bezirksklinikum Haar von 3000 auf 800 Betten zu verkleinern, habe Anfand der 1990er Jahre die Ausgliederung einer ganzen Abteilung mit Langzeitpatienten eingeleitet, die im Haus in Vaterstetten unterkam. Getragen vom Verein Regenbogen, der von Mitarbeitern des Bezirkskrankenhauses Haar ins Leben gerufen worden war. Darunter war auch Norbert Braunisch, Ehemann von Barbara Portenlänger, ehemals Arzt am Klinikum Haar und später Chefarzt der psychiatrischen Klinik in Agatharied. Neben dem Haus an der Dorfstraße rief der Verein weitere, ähnliche Einrichtungen im Münchner Raum ins Leben.

Auch im Klinikalltag werde heute ein differenzierter Umgang mit psychisch Kranken gepflegt, so Weiß. "Heute gibt es viel mehr Klassifikationen, Persönlichkeitsstörungen spielen eine große Rolle, ADS oder ADHS, Depressionen, auch alkoholbedingte Erkrankungen, Borderline. Die Kranken früher galten einfach als schizophren, die haben halt gesponnen." Einen Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung müsse man aber ganz anders behandeln als jemand mit Wahnvorstellungen." Enthospitalisierung, Teilhabe und Normalisierungsprinzip sind die Schlagwörter, unter denen man heute versucht, psychisch Kranken den Weg zurück ins Leben zu ebnen - soweit sie nicht eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen. "Heute geht man davon aus, dass auch jemand mit einem Handicap so normal wie möglich leben soll."

Soziale Dienste Psychiatrie: Bezirkstagspräsident Josef Mederer drückte seine Wertschätzung für die Einrichtung aus.

Bezirkstagspräsident Josef Mederer drückte seine Wertschätzung für die Einrichtung aus.

(Foto: Christian Endt)

Genau dieses Ziel verfolgen die Sozialen Dienste Psychiatrie, die 2005 in eine gemeinnützige GmbH umgewandelt worden sind, mit ihrer neuen Einrichtung. Jeder Bewohner habe seinen eigenen Hilfsplan, erläutert Weiß. Der eine nutze vielleicht schon seine eigene Küche, kümmere sich selbst um seine Wäsche, arbeite in der Werkstatt oder im Garten, um sich auszuprobieren, ein anderer brauche vielleicht noch die Anleitung einer Köchin in einer der Etagenküchen.

Die Einbettung in eine neue Siedlung, so hoffen Weiß und Portenlänger, werde mithelfen, die Bewohner in Johanna und Sebastian zu integrieren. Wobei "man kennt sie ja eh hier. Sie haben auch bisher schon im Rewe eingekauft, Besucher waren hier und haben Produkte aus unseren Werkstätten gekauft." Der Name übrigens leitet sich ab von der Johann-Sebastian-Bach-Straße, die hinter den beiden Häusern vorbeiläuft. "Musik spielt in der Therapie psychisch Kranker ja eine große Rolle", erklärt Portenlänger, "und", - sie lacht - "ein bisschen gegendert haben wir damit auch noch."

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