Reiche Historie:Am Anfang war das Pferd

Der Reitclub Steinsee feiert mit einem Jubiläumsturnier am Pfingstwochenende seinen 50. Geburtstag. Die Geschichte von Gut Niederseeon ist aber schon viel älter. Mit den Familien Robeis und Mayr ist Mitte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal Kontinuität auf dem Hof eingezogen

Von Alexandra Leuthner, Moosach

Schräg vor dem Eingang des Haupthauses steht die wohl größte Kastanie weit und breit. Die Jahreszahl über der Eingangstür des barockgelben Gebäudes weist das Jahr 1850 als Baujahr aus, und so alt ist auch der gigantische Baum. Davon erzählt Sepp Mayr, der jeden Herbst die Blätter wegräumt, um der Miniermotte keine Chance zu lassen. Zum Dank spannt die Kastanie ihren mächtigen Schirm über einer Bank und einem Holztisch auf, wo Vater Sepp und sein Sohn Klaus sitzen und von der Geschichte des Reiterhofs am Steinsee erzählen. Enkel Michael lehnt ein paar Meter weiter am Zaun und hört zu. Er ist der nächste in der Generationenfolge und es ist schon ausgemacht, dass er den Hof einmal übernehmen soll.

Dessen Geschichte ist ein bisschen älter als die 50 Jahre, die der dort beheimatete Reitclub Steinsee (RCS) auf dem Buckel hat und die seine Mitglieder am Pfingstwochenende mit einem Jubiläumsturnier feiern wollen. Die Wurzeln der Hof-Geschichte reichen weit zurück, mehr als 1500 Jahre, als von einem römischen Gutshof hier die Rede war. Später findet das Anwesen, das mal erweitert wurde, dann wieder schrumpfte, Erwähnung in den Annalen der Klöster Tegernsee und Dietramszell. Die Wittelsbacher, später auch die Herren über Falkenberg und Zinneberg hatten ihre Hand darauf. Im 19. Jahrhundert wechselte der Eigentümer immer wieder: Ein Gastwirt, ein Kaufmann, ein Hotelier aus Österreich, eine Gräfin aus Ungarn und die Bayerische Immobiliengesellschaft aus München schrieben sich ins Grundbuch. Zu jener Zeit wurde in Niederseeon vor allem Milch produziert, die dann mittels Eisenbahn über die 1895 gegründete Bahnlinie Grafing-Glonn nach München transportiert wurde. Schließlich kaufte sich ein Großindustrieller, Adolf Busing-Orville, das Schloss Zinneberg und riss auch Niederseeon an sich. Er war es, der dem Münchner Architekten Friedrich von Thiersch - Erbauer des Münchner Justizpalastes und des Turms der TU - den Auftrag gab, die heute noch existierenden steinernen Torbögen und einen gigantischen Getreidespeicher zu errichten.

Dessen Existenz ist es wohl zu verdanken, dass dort, wo sich Adlige und Geldige jahrhundertelang die Klinke in die Hand gaben, nun die Steinseer Reiter zu Hause sind. Nach einem Freiherrn, einem schlesischen Adligen und, nach dem Zweiten Weltkrieg, der Bayerischen Landessiedlungsgesellschaft übernahmen 1959 Nikolaus und Anna Robeis, Sepp Mayrs Schwiegereltern, Stallungen und Getreidespeicher - und läuteten damit den bisher längsten Akt in der Eigentümergeschichte ein. Von den 600 Tagwerk oder etwa 200 Hektar, die einst zum Gut Niederseeon gehört hatten, waren nach den Besitzerwechseln und der Aufteilung in Niederseoon und Oberseeon nur mehr 45 Hektar übrig geblieben. Zu wenig, um den Speicher zu füllen, oder die landwirtschaftlichen Gebäude auszulasten. "Ein Hektar an Dachflächen, das haben wir alles reparieren müssen", erinnert sich Sepp Mayr, der seinen Schwiegervater unterstützte, bevor er 1970 den Hof gemeinsam mit seiner Frau übernahm. "Allein die Halle hatte 1600 Quadratmeter." Abreißen aber durfte die Bauernfamilie das denkmalgeschützte Bauwerk nicht, genauso wenig wie die von Thierschen Torbögen. Da war der Umbau des Speichers in eine Reithalle 1970, sowie die allmähliche Umstellung von Milchkühen und dann Bullenmast auf Pferdehaltung ein logischer Schritt. Die Kühe machten Platz für eine Pferdewaschanlage und ein Solarium - damit die Rösser sich im nass geschwitzten Winterfell nicht erkälteten. '86 kam die zweite Reithalle dazu. Der Pferdebestand war gewachsen, Familie Mayr hatte immer mehr Boxen verpachtet. Die alte Halle ist für den Schulbetrieb, die neue für Privatreiter reserviert. Wenn Sepp Mayr ins filigrane, 15 Meter hohe Gebälk des alten Speichers hinauf schaut, wo noch Reste des Metallkrans hängen, mit dem einst gigantische Getreidemengen zu den Lagerflächen befördert wurden, überkommt ihn ein Schaudern. Dort oben sei er herum geklettert, erzählt er, hat die alte Anlage eigenhändig abgebaut. Unten entstand eine Bande, Spiegel kamen an die Wände, Buchstaben an die Frontseiten, wie sie zu einem Hufschlag gehören, auch eine Wirtschaft, in der man hinter Glasscheiben sitzen und den Reitern zuschauen kann.

Zwei Jahre vor dem Hallenumbau hatte sich der Reitverein gegründet. Albert Finkenzeller erinnert sich noch gut daran. Der heute 80-Jährige, der seit ein paar Jahren die Theaterstücke für das Steinseer Theater schreibt, gehörte zu den ersten Reitern, die sich 1968 um den Pferdesportjournalisten Hubert Bichlmeier scharten, als der beschloss, einen Verein ins Leben zu rufen. "A richtiger Stoderer", sei er gewesen, der charismatische Redakteur der Zeitschrift "Pferdezucht und Sport", erzählt Sepp Mayr. Aber ein Pferdemensch mit Leib und Seele, den der Verein und die Familie Mayr schließlich sogar in ein Häuschen auf dem Gelände holten, nachdem ihn eine Erkrankung an den Rollstuhl gefesselt hatte. 2014 starb er hier. In den ausgehenden 60er Jahren war er nicht nur derjenige, der den Verein zum Leben erweckte. Mit seinen Kontakten zur Münchner Theaterszene war er es auch, der die Steinseer Theatertruppe initiierte - die heute längst nicht mehr auf einem Heuwagen spielt. Ihr Jubiläumsstück führte sie heuer im Gut Georgenberg auf.

40 Mitglieder hatte der Verein kurz nach seiner Gründung, um die 240 seien es jetzt, berichtet Finkenzeller. "Schizophren war, dass wir damals gar keine Pferde hatten." Die mussten erst einmal organisiert werden - und auch da war wieder Hubert Bichlmeier gefragt. Als Conférencier im Hippodrom auf dem Oktoberfest hatte er auch hier gute Beziehungen. Nach dem Volksfest im Oktober wurden die Pferde, die dort zwei Wochen lang im Kreis gelaufen waren, immer verkauft. "Kommt's raus und probiert's es aus", hatte Bichlmeier seinen Vereinsfreunden gesagt. Und so fanden die ersten drei Vereinsrösser ihren Weg an den Steinsee. Geritten wurde damals noch zwischen aufgestellten Strohballen, die im Getreidespeicher die Bande ersetzten. Wenig später, 1971, hätten die Olympiateilnehmer im Modernen Fünfkampf auf Pferden des RCS trainiert, erinnert sich Sepp Mayr. Heute sind es acht Pferde, die der Verein für den Unterricht zur Verfügung stellt. 67 stehen insgesamt auf dem Hof, sie gehören alle Vereinsmitgliedern, die sich, wie Albert Finkenzeller, irgendwann selbst ein Pferd gekauft haben. Das Reiten hat der Senior aber inzwischen aufgegeben. Auf Wettkämpfen feuert er, der jahrelang begeisterter Vielseitigkeitsreiter war, jetzt seine Tochter an.

Vor dem Pfingstturnier am Wochenende brummt es im Stall. Schon zwei Wochen vor dem Turnier hängt ein Zettel am Schwarzen Brett: "Es werden Geländehindernisse aufgebaut". Jedes Jahr lockt das Ereignis Hunderte, manchmal bis zu 1000 Gäste auf das Gelände. Da werden alle Hände gebraucht, damit nichts schief geht - und schließlich verpflichtet sich jedes Vereinsmitglied, an zwei Tagen im Monat für den Verein zu arbeiten. Die zwei Sandplätze, der Spring-Parcours - müssen hergerichtet werden für das Wochenende, an dem in 18 Prüfungen die Oberbayerischen Meisterschaften der Vielseitigkeitsreiter ausgetragen wird. Die Qualifikation zum Bundeschampionat der Vielseitigkeitspferde und -ponys gehört zum Programm und das Turnier ist Teil des deutsch-österreichischen Grenzlandcups. Zum runden Geburtstag, richtet der Reitclub ein Jubiläumsderby aus, im Showprogramm zeigen Kutschengespanne, Andalusier und schnelle Hunde beim "Flyball" ihr Können.

Um das reiterliche Können der Steinseer - "95 Prozent Mädchen natürlich", sagen die Mayrs - kümmert sich seit Jahren der ungarische Reitlehrer Zoltan Horvath. Mit Erfolg: Seine Schüler haben es immer wieder ins Finale des bundesweiten Schulpferdecups geschafft. Die Niederseeoner Anlage, die neben ihren Hallen, Sandplätzen und dem Spring-Parcours auch mit zwei Rennbahnen aufwarten kann, bietet perfekte Voraussetzungen für Turnierreiter - auch wenn sich etwa die Hälfte der Steinseer, schätzt Klaus Mayr, mit dem Freizeitreiten begnügt, gar das Ausreiten im Gelände bevorzugt. "Das hat uns damals überzeugt, hierher zu kommen, dass wir raus konnten mit den Pferden", erzählt Finkenzeller. Das war in den wenigen städtischen Reitbetrieben, die es in den 60er Jahren gab, oft nicht möglich. Ohnehin sei man einer der ersten Höfe gewesen, der die Kühe aus dem Stall warf und auf die Reiterei umstellte, erzählt Sepp Mayr - eine sicher gewöhnungsbedürftige Neuerung, betrachtet man den Zuwachs an Menschen auf dem Bauernhof. Mit Pferden sei seine Familie ja immer schon vertraut gewesen, sagt Sepp Mayr. "Aber, ich hab jetzt 40 Jahren mit de' Reitersleit zu tun, die meisten waren vernünftig." Er grinst ein bisschen dabei. Von den Mayrs selbst hat keiner jemals ein Bein über einen Pferderücken geschwungen - und das wird sich wohl auch nicht ändern.

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