Pflegefamilie:"Man ist nicht Eltern, sondern nur Begleiter auf dem Lebensweg"

Pflegefamilie Katter

Wer zu Gast bei Martina und Andreas Katter mit ihrem Pflegesohn Pascal ist, den überkommt nicht nur aufgrund des wunderschönen Gartens das Gefühl von unbeschwerten Sommerferien.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mit anderthalb Jahren kam Pascal als Pflegekind zu den Katters. Die stellten fest: Sie bekommen nicht nur einen Sohn, sondern auch dessen Herkunftsfamilie.

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

In einem weiß getünchten Reihenhäuschen mit malerischem Ausblick auf Ebersberger Wiesen und Felder wohnt die Familie Katter. Wer klingelt, wird von einem schlaksigen jungen Mann empfangen, der höflich herein bittet. Im Garten plätschert ein Teich mit Goldfischen, von einem nahe gelegenen Gewässer hört man auch tagsüber die Frösche quaken. Hier wohnen Martina und Andreas Katter, sie lachen gerne und verbreiten mit ihrer Fröhlichkeit ein Gefühl von Sommerferien.

Tochter Janike ist noch unterwegs und wird später dazu kommen; der junge Mann heißt Pascal und fragt: "Mama, willst du noch einen Kaffee?" Ein idyllisches Familienbild, doch die Geschichte der Katters ist nicht die einer typischen Kleinfamilie. Pascal ist ein Pflegesohn, und dass er sich jetzt wie selbstverständlich in das Bild eines harmonischen Miteinanders einfügt, ist das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklung.

Das Ehepaar Katter ist ein eingespieltes Team. Wenn die beiden erzählen, vollenden sie auch schon mal den Satz ihres Partners. Man merkt: Die Geschichte, die sie erzählen, sind sie schon öfter gemeinsam durchgegangen. In allen Höhen und Tiefen. Pascal verschwindet zwischendurch in sein Zimmer; er braucht immer wieder eine Pause von den Schatten seiner Vergangenheit, so scheint es.

Pascal, heute 18, kam vor mehr als 16 Jahren zu den Katters. Damals lebten sie in Lübeck. Bevor Martina schwanger mit ihrer heute 19-jährigen Tochter Janike wurde, hatten die Ärzte ihr prognostiziert, sie könne keine Kinder bekommen. Allen Diagnosen zum Trotz kam Janike; ein zweites Kind will sich jedoch nicht ankündigen. Schnell merken sie, dass sie die Tochter über die Maßen verwöhnen, und sie Platz für ein zweites Kind haben.

Zum Jugendamt gehen die Katters eigentlich nur, um sich über die Möglichkeiten einer Adoption oder eines Pflegekindes zu erkundigen. "Und dann waren wir ratzfatz in einer Mühle drin", sagt Martina Katter. Pedantisch nimmt die Behörde sie unter die Lupe; endlose Begutachtungen und Fragebögen folgen. "Manche Fragen konnten wir gar nicht beantworten", sagt Andreas, "wenn man ein eigenes Kind kriegt, weiß man ja auch noch nicht vorher, auf welche Schule man es zum Beispiel schicken will." Dann folgt erst einmal ein Dreivierteljahr, in dem sie nichts tun können außer warten. "Wir empfanden das als sehr lang", erzählt Martina. Dann der Anruf: Da ist ein Kind, für das eine Dauerpflegestelle gesucht wird; Pascal wurde bei einer Untersuchung wegen seines verwahrlosten Zustands vom Kinderarzt ins Krankenhaus eingewiesen und das Jugendamt informiert. Die Mutter stimmte zu, dass Pascal in Obhut gegeben wird.

Die Katters werden beim Jugendamt vorstellig, dann kommt der erste Besuchskontakt. Pascal, damals anderthalb Jahre alt, ist in einer Kurzzeit-Pflegefamilie untergebracht. "Was uns vom Jugendamt klar gemacht wurde: Das Kind muss in die Familie passen", sagt Andreas Katter. Als sie Pascal zum ersten Mal sahen, sind sie von seinem Zustand entsetzt. "Es war sehr schwer, damit umzugehen", erzählt Martina. Andreas fügt hinzu: "Wir mussten lernen, Pascals Vorgeschichte nicht als für uns relevant anzusehen. Wir konnten ja nur spekulieren, was er vorher erlebt hat. Es war wichtig, das auszublenden."

Das Eis ist schnell gebrochen. "Als er mir mit seiner kleinen Hand aufs Knie gepatscht hat, wars um mich geschehen", sagt Martina Katter. Schnell ist klar: Die Chemie stimmt, die Katters wollen Pascal aufnehmen. Drei Wochen lang besuchen die Katters Pascal täglich bei der Pflegemutter, bis das kleine Kind es zulässt, in den Arm genommen und gefüttert zu werden. Bei den Besuchen ist Tochter Janike immer dabei; das erweist sich, wie sich später herausstellt, als Türöffner. Sie sieht Pascals leiblicher Schwester ähnlich. "Das hat es für uns etwas leichter gemacht", sagt Andreas Katter.

Fünf Monate fremdelt Pascal, sein Wimmern wird zum dauerhaften Hintergrundgeräusch. Wenn er sich weh tut, kann er keinen Trost annehmen; er trauert seiner Familie stark hinterher. "Er hatte extreme Ängste", sagt Martina Katter, "die ersten Monate waren sehr schwer". Dann, von einem Tag auf den anderen, platzt der Knoten. Plötzlich lässt sich Pascal auf den Arm nehmen, er entspannt, wenn man ihn berührt. Lange dauert diese Phase nicht an, denn der nächste Unruhefaktor steht bevor: Nach fünf Monaten Kontaktsperre darf die leibliche Mutter nun wieder Pascal sehen. Zwar nur unter Aufsicht, doch bringt es Pascal jedes Mal wieder komplett durcheinander.

Dann "ein komisches Treffen" mit der leiblichen Mutter

Trotz allem hat die Mutter das Sorgerecht für Pascal behalten, nur das Aufenthaltsbestimmungsrecht wurde ihr entzogen. "Wir haben den Erziehungsauftrag bekommen, aber wir dürfen nichts selbst entscheiden", formuliert das Andreas Katter, "man ist nicht Eltern, sondern nur Begleiter auf dem Lebensweg." Eine eigene Position zu finden, sei schwierig gewesen; dass sie mit einem Pflegekind noch quasi seine Herkunftsfamilie mit aufnehmen, darauf waren sie nicht vorbereitet.

Bei dem ersten Treffen muss Martina Katter dabei sein. "Ich hatte Angst vor dem Kontakt"; sagt sie, "ich wusste ja nicht: Will sie ihn wieder zurück haben?" Die Angst erweist sich als unbegründet. Die Mutter ist mit der Situation überfordert, kann auf ihren Sohn nicht eingehen. Wenn Pascal sich weh tut, geht er zu Martina, um sich trösten zu lassen. "Ein komisches Treffen", sagt Martina.

In den nächsten Jahren werden diese Treffen beibehalten und erweitert: Pascals gesamte leibliche Familie sowie die Pflegefamilie finden sich zum großen, etwas anderen Familientreffen zusammen. Nach diesen Treffen ist Pascal immer völlig aus der Bahn geworfen, er zeigt starke Verhaltensauffälligkeiten, wimmert wieder. "Irgendwann haben wir dann die Reißleine gezogen und gesagt: So geht das nicht weiter", sagt Martina. Statt des großen Brimboriums wählen sie Begegnungen ohne zeitliche Vorgaben, treffen Pascals Mutter mal "zufällig" beim Ausflug. Pascal darf bestimmen, wann er genug hat. Und das tut er auch.

Als Pascal fünf Jahre alt ist, beraumt die Kinderpsychologin, bei der Pascal in Behandlung ist, ein großes Treffen an. Sie vertritt die Ansicht, dass Kinder zu ihren Herkunftsfamilien gehören, und will ausloten, wie die Möglichkeiten einer Rückkehr Pascals zu seiner Mutter stehen. Auch vom Jugendamt sind Mitarbeiter bei dem Gespräch vor Ort. Und nun sagt die Mutter, vor allen Anwesenden: "Ich kann das nicht. Pascal soll bleiben, wo er ist. Er sieht toll aus, er lacht - ich glaube, er ist glücklich." Martina Katter erinnert sich: "Ich saß da und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Das war die absolute Befreiung." Jahrelang hing die Angst, Pascals Mutter könne ihren Sohn wieder zurück wollen, wie ein Damokles-Schwert über dem Familienglück der Katters. "Die Bindung zu dem Kind wächst, ohne Gefühle geht es nicht", sagt Martina Katter. Und nun das.

Danach setzen sich die beiden Mütter noch zusammen in ein Café und sind zum ersten Mal schonungslos ehrlich zueinander. Pascals Mutter gibt zu, sie habe lange Angst vor Martina Katter gehabt, und Martina Katter erzählt von ihren Befürchtungen. Sie schaffen das, was zwischen ihnen steht - die vermeintliche Konkurrenz, die Angst um Pascals Wohlergehen - aus dem Weg. "Seitdem haben wir ein recht gutes Verhältnis", sagt Martina Katter. Und so kommt es auch, dass die Mutter, obwohl es ihr sehr schwer fällt, zwei Jahre später zustimmt, dass Pascal mit seinen Pflegeeltern nach Bayern ziehen kann.

Andreas Katter arbeitet in der IT-Branche und ist schon drei Jahre lang arbeitslos, als er ein Jobangebot aus Ebersberg bekommt. Auswandern oder nicht, fragen sich die Katters - denn so fühlt es sich an, die Heimat im Norden zu verlassen. Schließlich wagen sie den Schritt und werden mit offenen Armen in Bayern empfangen, wie sie es nennen. Die Kinder finden schnell Anschluss in der Schule, die Kollegen und Nachbarn sind aufgeschlossen. Der Mutter von Pascal versprechen die Katters, mindestens einmal im Jahr Urlaub im Norden zu machen, damit sie ihren Sohn sehen kann. Das Versprechen halten sie auch - bis auf letztes Jahr, da machten die Katters zum ersten Mal einen Familienurlaub in Italien.

Adoption? Das soll Pascal selbst bestimmen

Janike hat im vergangenen Jahr Abitur gemacht, Pascal die Förderschule in Grafing als Bester abgeschlossen. Der Landrat hat ihm dafür sogar eine Urkunde überreicht. Momentan macht Pascal sein Berufsvorbereitungsjahr, er will danach eine Lehrstelle antreten. Ob sie jemals über Adoption nachgedacht hätten? Martina Katter legt den Kopf kurz in den Nacken und sagt: "Wenn, dann soll das Pascal selbst bestimmen." Die Möglichkeit auf Adoption war ihnen vom Jugendamt in Aussicht gestellt worden, als sie nach Bayern zogen, doch sie wollten Pascals Mutter bei der Entscheidung nicht übergehen. Rein rechtlich hat Pascal auch noch einige Jahre Zeit, einen Antrag auf Adoption zu stellen. Gefühlstechnisch, so sagen beide Katters, sei Pascal von Anfang an Teil der Familie gewesen.

Am Ende des Gesprächs setzt sich Pascal noch mal in die Runde. "Nachdem ich langsam kapiert habe, dass meine Mama nicht meine echte Mutter ist, war ich sehr traurig", sagt er. Ab und zu sei es noch schwer für ihn, die Situation und seine Vergangenheit zu verstehen, dann ziehe er sich zurück, erzählt Pascal. Er vermisse seine Geschwister und seine leiblichen Eltern, die er übrigens auch "Mama" und "Papa" nennt; die Entfernung von ihnen sei nicht immer leicht für ihn. Insgesamt gehe es ihm jedoch gut, sagt Pascal: "Jetzt bin ich älter und habe verstanden, dass ich hierher gehöre und mich wohl fühle."

Im Landkreis Ebersberg gibt es 72 Pflegefamilien. Pflegeeltern sollten über finanzielle Stabilität, Geduld und Einfühlungsvermögen mit belasteten oder traumatisierten Kindern, ausreichend Wohnraum und zeitliche Ressourcen verfügen. Infos gibt es unter https://kreisjugendamt.lra-ebe.de/kinder-jugend-und-familienhilfe/pflegekinderdienst/

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