Nachts unterwegs:Ebersberger Nächte sind lang

Wie lässt sich der Landkreis besser kennenlernen als auf einer Kneipentour? Ein Freitagabend von Ort zu Ort und Getränk zu Getränk

Von Christian Endt und Jessica Morof

Wie Rauchschwaden wabert der Geruch nach starkem Alkohol aus dem Glas empor. Christopher Jose Appler hat den rot-orangen Longdrink namens "Nikka Mangalore" empfohlen. Er rät, vor dem Trinken noch kurz zu warten: "Der japanische Whiskey ist vorneweg sehr penetrant", sagt der Wirt des Artesano, "legt sich aber, wenn er kalt wird, schön unter den Saft drunter." Das ist einerseits ziemlich leeres Barkeeper-Geschwafel. Andererseits muss Appler Ahnung haben. Schließlich betreibt der Mann mit Weste und Schiebermütze das wahrscheinlich stilvollste Lokal im Landkreis Ebersberg.

So ein Pubcrawl, früher unter dem Begriff Kneipentour bekannt, ist ja an sich ein Großstadt-Phänomen. Aber warum eigentlich? Vermutlich, weil dort die Kneipendichte größer ist und die Wege somit kürzer sind. Trotzdem: Man kann sich doch genauso gut mit der S-Bahn durch den Landkreis hangeln. Von Ort zu Ort; von Bar zu Bar; von Getränk zu Getränk.

Los geht es gleich nach Feierabend in Ebersberg. Raus aus der Redaktion, zweimal abbiegen, schon sind wir im Artesano. Beim Warten auf das Getränk begeben sich die Blicke ganz von selbst auf Entdeckungstour durch das Bistro. Sie huschen zu den unterschiedlichen Tischen, tasten die Wände ab, bleiben an Einrichtungsgegenständen hängen: Die quadratischen Bilder, die sich an den Wänden neben- und übereinander reihen, sind eigentlich Plattencover, die ein Künstler neu bemalt hat. Andreas Mitterer heißt er und das Projekt "PlattenRecover".

Auf den Tischen recken sich frisch-farbige Blumen aus alt anmutenden Ginflaschen. Und die zunächst altbackene Schirmlampe am Fenster enthüllt erst beim zweiten Blick ihre Vergangenheit als Trompete, was als Idee ja gar nicht altbacken ist. Dazu passt, dass kein Tisch und kein Stuhl im Artesano dem anderen gleicht. Dazu passt auch der hippe, charmante Wirt, der genau den richtigen Drink ausgesucht hat: Wirklich nicht so stark, wie er gerochen hat, sondern süß und fruchtig. Auch Kochen können sie hier, der Flammkuchen mit Rucola, Kirschtomaten und Parmesansplittern beispielsweise ist richtig gut.

Kneipentour moje und chen, 2 Nick's Baldham

Das 2 Nick's in Baldham.

(Foto: Jessica Morof)

Nächster Halt: Grafing. So zumindest der Plan - in der Praxis fällt die S-Bahn aus. Wertvolle Pubcrawl-Zeit darf natürlich keinesfalls am Bahnsteig vergeudet werden, muss unbedingt mit einem weiteren Lokalbesuch gefüllt werden. Also kurz entschlossen über die Straße zum Ebersberger Stüberl: einer klassischen Bahnhofskneipe. Tresen, Spielautomaten, an manchen Tagen kostet die Halbe nur Eins Siebzig.

Noch ist es draußen hell und angenehm warm. Vor der Tür sitzen zwei Jungs im Blaumann. "Und, alles klar?" wird einer der beiden von einem Vorbeigehenden gefragt. "Ja, heute schon: Es ist ja Wochenende!" kommt es zurück. Dementsprechend spendierfreudig geht es zu und kurzerhand wird eine Lokalrunde geordert. Wieder wird es nichts mit der Ein-Drink-Politik, die den Abend in halbwegs geordneten Bahnen hätte halten sollen. Schon im Artesano war sie gescheitert, an einer Wodka-Kaffee-Zucker-Kombination namens "Russisch Koks", die natürlich unbedingt probiert werden wollte. Das Stüberl jedenfalls ist als Lückenfüller soweit okay. Aber es ist doch ganz gut, dass die nächste S-Bahn nicht auch noch ausfällt.

Langsam wird es draußen dunkler, doch der Blick in das hell erleuchtete Café Mocca in Grafing zeigt: Es ist eigentlich noch zu früh, um auszugehen. Am Tresen steht ein älterer Mann, neben ihm sitzen zwei weitere auf Barhockern. Alle drei halten Zeitungen in den Händen und neigen die Köpfe über die Blätter. Still stiert jeder vor sich hin. Fremde Gesichter werden sehr kritisch beäugt. Abgesehen von den dreien ist das dunkel gehaltene Lokal mit den schwarzbraunen Tischen relativ leer. Eine Party sieht anders aus, aber gut. Immerhin gibt es im Keller einen Billardtisch. Nach drei Partien steht ein Sieger fest und es wird Zeit für den nächsten Zug.

Jetzt soll der Abend richtig losgehen: Im Mahagony in Kirchseeon steht Livemusik auf dem Programm. Nur die Wirtin weiß davon leider nichts. Tatsächlich ergibt ein Blick ins Netz: Der Tag stimmt zwar, der Monat aber nicht. Stattdessen läuft sentimentaler Austropop vom Band, dazu trinken traurige Gestalten ihr Bier. Man hätte gewarnt sein können, stieg doch in Kirchseeon kein Mensch aus, ein Vertreter der Dorfjugend jedoch hinein in die Bahn.

Kneipentour moje und chen, Café Mocca, Grafing, Billard

Der Billardtisch im Mocca in Grafing.

(Foto: Christian Endt)

Immerhin an einem Tisch sitzt eine kleine Geburtstagsgesellschaft, sie singen ein Ständchen, die Wirtin bringt Wunderkerzen. Die jedoch sind schnell verglüht und die Atmosphäre im Mahagony fällt zurück in triste Melancholie. Auch wenn Rainhard Fendrich inzwischen Rockklassikern wie Totos "Africa" gewichen ist. Als dann "Runaway Train" aus den Boxen kommt, gibt es keine alternative Deutung, das kann nur als Kommando verstanden werden, den nächsten Zug zu nehmen.

Man kommt leichter nach Kirchseeon als wieder fort. Zwanzig Minuten Verspätung hat die S-Bahn. Zeit, sich am Fahrkartenautomat mit der Funktion "Reiseverbindung" auseinanderzusetzen. Da ist zu erfahren: In nur 11 Stunden und 55 Minuten kommt man von Kirchseeon nach London. Nur 13 Minuten länger dauert die Fahrt nach Kopenhagen und in 41 Stunden 59 ist eine Reise ins ferne Sankt Petersburg zu machen, mit nur dreimal umsteigen. Als wolle die Bahn verspätungsbedingten Stimmungstiefs vorbeugen, lassen sich diese Informationen sogar auf handliche Zettelchen drucken. Zum späteren Ins-Büro-hängen und Von-der-Welt-träumen.

Zunächst aber ist ein etwas naheliegender Teil dieser Welt an der Reihe. In Baldham gibt es zwar keine weißen Nächte, aber immerhin eine Kneipe mit dem großartigen Namen Bierteufel. Also wenn das nicht die richtige Adresse für das große Finale einer Ebersberger Kneipentour ist, was dann? Gerade in der Gastronomie ist es allerdings wichtig, die Rechnung nicht ohne den Wirt zu machen. Jener nämlich hat beschlossen, sein Lokal an diesem Abend gar nicht erst aufzusperren.

Kneipentour moje und chen, Artesano, Ebersberg

Das Artesano in Ebersberg.

(Foto: Christian Endt)

Zum Glück ist eine Alternative schnell gefunden: Das 2 Nick's, eine kleine Kellerbar im Turm am Marktplatz. Auffallend ist dort vor allem die große Karikatur an der Wand, bei der man sich für einen ganz kurzen Augenblick an den Vaterstettener Bürgermeister erinnert fühlt. Was aber schon deshalb nicht sein kann, weil das gleiche Bild in der Schwesterkneipe Nick's hängt. Die liegt bekanntlich in Zorneding, weit außerhalb des Reitsbergschen Hoheitsgebietes. Eine weitere Untersuchung der Inneneinrichtung wird vom hypnotisch dauerlaufenden Wasserhahn am Spülbecken hinter der Bar verhindert. Außerdem stellt das Personal schon die Stühle auf die Tische. Ein klares Signal zum Aufbruch.

Vorher ist aber noch kurz Zeit, bei einem großen Schluck Helles ein Fazit des Abends zu ziehen. Was das Artesano an ausgefallenen Getränken vorgelegt hat, konnten die anderen Bars nicht ganz halten. Im Mocca kann man das Guinness vielleicht noch als Spezialität durchgehen lassen. Danach wird es wirklich dünn. Auch stimmungsmäßig wäre in einigen Lokalen noch Luft nach oben. Und wo gehen eigentlich die jungen Menschen aus dem Landkreis am Freitagabend hin? Auf den Stationen dieser Kneipentour waren sie nur sehr vereinzelt anzutreffen.

Um diese Frage zu klären, ist wohl eine weitere Recherche nötig. Vielleicht hat dann auch der Bierteufel offen. Wenn nicht, hilft nur noch der Zug nach Sankt Petersburg.

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