Moosach/München:Expeditionen in fremde Klangwelten

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Peter Pruchniewitz spielt die Rolle des Arztes und Erzählers. Cornelia Melián hat in der Inszenierung von "Musicophilia" den Gesangspart. (Foto: Regina Heiland)

An drei Abenden zeigt das Meta Theater im Schwere Reiter die Erfolgsproduktion "Musicophilia"

Von Rita Baedeker, Moosach/München

Bei den "Mafa" im nördlichen Kamerun ist westliche Musik unbekannt. Bevor Thomas Fritz, Biologe, Künstler und Forscher am Max-Planck-Institut Leipzig für Kognitions- und Neurowissenschaften, diese abgeschieden lebende Volksgruppe besuchte, hatten die Menschen dort, wie Fritz erklärt, auch noch nie Fotos gesehen, wie sie der Wissenschaftler bei seinen Experimenten zur universellen Wahrnehmung von Musik in Verbindung mit Emotionen benutzte.

Sein Vortrag in der Kulturstätte "Schwere Reiter" in München bereitete das zahlreich erschienene Publikum auf die Performance "Musicophilia" vor, einer Produktion des Meta Theaters Moosach nach dem gleichnamigen Buch von Oliver Sacks und in der Bühnenfassung von Norbert Niemann. Am dritten und letzten Abend vertrat Fritz den erkrankten Neurologieprofessor und Klinikdirektor Arno Villringer, der über den evolutionären Nutzen von Musik sprechen wollte. Doch die Besucher waren nicht enttäuscht, auch jene nicht, die den Vortrag des jungen Wissenschaftlers schon am Abend zuvor gehört hatten. "Wir waren an allen Abenden mehr als ausgebucht", freute sich Axel Tangerding, Leiter des Meta Theaters und Regisseur der Aufführung, die tosenden Applaus bekam.

Thomas Fritz fand heraus, dass die "Mafa", wie auch andere Kulturen, den Charakter von Musik ähnlich bewerten wie Europäer. Dazu zeigte er ihnen Fotos einer weißen Frau, deren Mimik mal einen fröhlichen, mal einen traurigen und ängstlichen Seelenzustand spiegelt. Die Testpersonen hatten die Aufgabe, den Charakter der ihnen fremden Musik den Fotos zuzuordnen. Auch darüber, welche Bilder Musik hervorbringt, besteht offenbar viel Übereinstimmung. Die Aria "Schafe können sicher weiden" aus Bachs Jagdkantate assoziierten die "Mafa" mit dem Wort für "Frieden". Erstaunlich für Menschen, die weder die Musik noch den Text dieser Kantate jemals gehört haben.

Wie Musik und Gehirntätigkeit auf- und ineinander wirken, das hat der britische Neurologe Oliver Sacks vielfach in Büchern beschrieben. In der an den Vortrag anschließenden Aufführung haben die Darsteller Cornelia Melián, Gesang, der Schauspieler Peter Pruchniewitz in der Rolle des Erzählers sowie die Geigerin Gertrud Schilde und der Cellist Mathias Beyer-Karlshœj mehrere von Sacks geschilderte "Fälle" in Farben, Choreografien und Klänge übersetzt. Cornelia Melián, die kurz vor der dritten Aufführung einen Bandscheibenvorfall erlitt, musste sich auf den Gesang beschränken. Sozusagen als zweites Ich übernahm Katja Wachter, Choreografin und Tänzerin an der Theaterakademie, die bewegten Szenen. Innerhalb von 24 Stunden fühlte sie sich in die Seelenzustände, in das Glück, die Qualen, die Verwirrung und die Abgründe der "Patienten" ein. Das Stück, das seit seiner Uraufführung eine Welt-Tournee hinter sich hat und einen internationalen Theaterpreis gewann, basiert auf neun Fallbeispielen von Menschen, die aufgrund einer neurologischen Erkrankung aus der Normalität herausfallen. Zum Beispiel eine Komponistin, die ihre Fähigkeit zum polyphonen Hören verliert und die Stimmen eines Streichquartetts als Laserstrahlen wahrnimmt, der Mensch mit dem absoluten Gehör, für den der Wind in D-Dur weht; der Synästhesist, der Töne schmecken kann; der an "Amusie" Leidende, dessen akustische Umwelt aus zerstückelten Klängen besteht, gleich einem Weltempfänger mit unsauber eingestellten Sendern. Oder die demente jüdische Dame, die ihr Klagen unterbricht und "normal" antwortet, wenn ihr Pfleger singt.

Statt einer Handlung setzt Tangerdings Inszenierung mit Marc Thurows weißen Tuben als Bühnenbild auf Momentaufnahmen von Psyche und Physis. Dank der klanglichen Vielfalt der Komposition von Steffen Wick, des einfühlsamen Sounddesigns von Simon Detel, der Videobilder von Stefano di Buduo und des Zusammenwirkens von Schauspiel, Text, Musik und Tanz bekommt das Stück ergreifende Intensität und - Effekt der Spiegelneuronen - weckt Mitgefühl.

© SZ vom 09.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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