Markt Schwaben:In dieser Unterkunft wählen Flüchtlinge ihr eigenes Parlament

Parlament in der Turnhalle

Auf einer Pinnwand stellen sich die Nationensprecher vor.

(Foto: privat)

Das Komitee tagt im Turnhallenflur, jede Nation hat eine Stimme. Das Konzept ist in Bayern einzigartig.

Von Korbinian Eisenberger, Markt Schwaben

Wahid Mural hat ein Jackett angezogen. Natürlich kommt es auch darauf an, wie man sich in der Runde präsentiert. Es kommt darauf an, den eigenen Standpunkt zu vertreten, oder besser: den Standpunkt der eigenen Nation. "Wir vom Parlament wollen die Probleme in der Halle gemeinsam lösen, sagt der 28-Jährige. "Und wir sind das Ventil, damit es nicht kracht."

Zumindest sei das der Plan. Mural streift sein Jackett glatt, richtet den Hemdkragen zurecht. Es ist Sonntagabend in der Massenunterkunft im oberbayerischen Markt Schwaben, 19 Uhr. Die Erwartungen der 260 Männer, die hier wohnen, sind groß, jetzt tagt das Parlament.

Das Parlament der Dreifachturnhalle von Markt Schwaben nimmt nicht auf feinen Bürostühlen Platz, es gibt auch keinen eigenen Sitzungssaal. Doch es gibt vier Bänke aus der Umkleidekabine, die in einer Nische im Seitengang aufgebaut sind, ein Flipchart und Abgeordnete, die auf den Bänken sitzen und aufstehen, wenn sie etwas zu sagen haben.

Jede Nation hat einen Vertreter, einen der vorträgt, was die Landsmänner in der Halle beschäftigt. Und der seinen Männern Meldung erstattet, was das Parlament entschieden hat. 41 Männer aus Afghanistan, 45 aus Pakistan, 39 Senegalesen - sie alle haben einen der ihren zum Sprecher gewählt. In der Dreifachturnhalle haben die Flüchtlinge seit vier Wochen eine Stimme.

Neun Männer aus neun Nationen, demokratisch legitimiert

Mohamed Shehad ist syrischer Ingenieur, seit einer geheimen Abstimmung vertritt er etwa 50 Männer, die in den Stockbetten in der Halle wohnen. Im Parlament geht es an diesem Abend um das Ärgernis mit der Elektrizität. Zu wenige Steckdosen, zu schwacher Strom zum Handy aufladen. "Es gibt von allem zu wenig", sagt Shehad. "Statt uns mehr Teller und Töpfe zu geben, werden immer mehr Menschen in die Halle gebracht."

Viele von ihnen sitzen auf dem Boden, essen aus Topfdeckeln oder von Pappkartons. Drei Duschen und zwei Küchen für knapp 300 Menschen, das sei ein Problem - so sehen das die Flüchtlinge und die Helfer. "Wir wissen, dass das Landratsamt überfordert ist", sagt Joachim Weikel, der Vorsitzende des Helferkreises.

Es ist nicht so, dass in Markt Schwaben alles reibungslos verläuft, seit die Helfer zusammen mit den Hallenbewohnern das Nationen-Komitee gegründet haben. Man könnte sagen, es handle sich um eine ganz normale Massenunterkunft, mit Problemen wie in jeder anderen bayerischen Turnhalle, in der Flüchtlinge leben.

Doch in Markt Schwaben gibt es diese Nische, mit den Bänken und dem Flipchart - dort, wo jetzt neun Männer aus neun Nationen zusammen sitzen, demokratisch legitimiert. Gesprochen wird englisch, ein Helfer aus dem Ort übersetzt für den Vertreter aus Mali ins Französische. Es ist die zweite Sitzung, jede Nation hat eine Stimme, auch wenn aus Eritrea nur 15 Menschen in der Halle sind und fast 50 Syrer. "Wir wollten es nicht unnötig kompliziert machen", sagt Weikel.

Auch in Markt Schwaben wird die Stimmung aggressiver

Markt Schwaben: Die Turnhalle in Markt Schaben ist mittlerweile voll belegt.

Die Turnhalle in Markt Schaben ist mittlerweile voll belegt.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Im Landkreis Ebersberg gibt es vergleichbare Konzepte bisher nicht. In der Regel, so berichten Freiwillige aus ganz Bayern, werden einzelne Ansprechpartner mit guten Fremdsprachenkenntnissen bestimmt - meist jedoch von den Helfern. Dabei ist das Markt Schwabener Konzept seit Jahrzehnten in allen Bereichen der Gesellschaft bewährt - etwa in Schulklassen, an Universitäten, oder in der Politik.

Zumindest kommt die Sozialpsychologie zu diesem Ergebnis. "Aus unseren Forschungen wissen wir, dass sich Gruppen mit den Entscheidungen eher identifizieren, wenn vorher diskutiert wird", sagt Dieter Frey, Professor für Sozialpsychologie an der LMU München. Die Wahl eines Sprechers habe den Vorteil, dass sich eine Gruppe vertreten fühlt, damit eine Stimme hat, so Frey. " Auch wenn nachher die Entscheidung anders ausfällt, als sich die Gruppe vorgestellt hat." Dies sei mit ein Grund dafür, warum es in Diktaturen fast immer zu Aufständen komme.

In diesen Wochen wächst in den Massenunterkünften die Unzufriedenheit. Bayernweit häufen sich die Meldungen von Massenschlägereien in Flüchtlingsunterkünften, täglich berichtet die Polizei von Einsätzen. Jüngst prügelten in der Massenunterkunft in Poing 40 bis 50 Asylbewerber aufeinander ein.

Dass die Stimmung aggressiver wird, zeigte sich vor fünf Wochen schließlich auch in Markt Schwaben. Die Polizei berichtet von einem Einsatz Ende Januar, als Beamte ausrückten, um zwei Flüchtlinge zu trennen die in der Turnhalle aufeinander los gegangen waren. Ein Araber hatte einen Schwarzafrikaner fotografiert, der das nicht wollte. Wie so oft in Flüchtlingsunterkünften war es eine Lappalie, die zur Eskalation führte, weil die Nerven blank liegen. Die Poinger Polizei nahm die beiden Männer fest, versetzte sie in eine andere Halle. "Damit war aber das Problem nicht gelöst", sagt Weikel.

"Wir haben 14 neue Afghanen bekommen, aber keine zusätzlichen Duschen"

Für Maetar Gueye aus Senegal ist es die zweite Sitzung. Er sei dankbar, sagt er, dankbar für dieses Gremium. Bisher habe er aber nicht das Gefühl, dass sich viel zum Positiven verändert habe. "Wir haben 14 neue Afghanen bekommen, aber keine zusätzlichen Duschen", sagt er. Dann setzt er sich wieder, jetzt steht Weikel auf und verkündet die Botschaft dieses Abends.

Das Landratsamt sei nach wie vor überfordert. "Es wird in absehbarer Zeit keine zusätzlichen Duschen, Küchen und Waschmaschinen geben", sagt Weikel. Kurz hört man nur noch die Tischtennisspieler von unten in der Halle. Stille. Das hatten sich die neun Männer, die Stimmen dieser Halle, ganz anders vorgestellt.

Bringt so ein Parlament überhaupt etwas? Wenn sich nichts ändert? Wenn die Staus an den Toiletten eher länger als kürzer werden und der Platz zwischen den Betten eher weniger wird als mehr? Auch auf diese Fragen hat die Forschung eine Antwort gefunden. "Entscheidend ist", so Frey, "dass die Leute an der Basis wissen, dass sie gehört werden." Mit diesem Bewusstsein sei es für den Menschen erträglicher zu akzeptieren, dass eine Entscheidung gegen den eigenen Willen gefallen ist", so Frey.

In der Sozialpsychologie heißt es, dass ein demokratisches System auch dann funktionieren kann, wenn sich die Situation nicht unbedingt verbessert. "Schwierig wird es aber", sagt Frey, "wenn die Gewählten die Bodenhaftung verlieren und ihre Macht missbrauchen." Dann, so Frey, schlage die Stimmung schnell ins Gegenteil um.

Der Komitee-Sprecher für Pakistan mahnt zur Geduld

Markt Schwaben: Blick in einen Küchencontainer in der Turnhalle in Markt Schwaben, die als Flüchtlingsunterkunft genutzt wird.

Blick in einen Küchencontainer in der Turnhalle in Markt Schwaben, die als Flüchtlingsunterkunft genutzt wird.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

In der Halle stapfen jetzt die Männer zu ihrem Schlafplatz zurück, einer von ihnen flucht, ein anderer droht damit, künftig auf der Straße zu übernachten, aus Protest. Asaf Ullah Imran, Komitee-Sprecher für Pakistan, hat seinen Leuten gerade das Ergebnis der Sitzung verkündet, dass es erst mal keine neuen Duschen und Steckdosen geben werde.

"Ich gehe jetzt zu jedem einzelnen und erkläre, warum das gerade nicht anders geht", sagt der 40-Jährige. Dass es diese Probleme in ganz Deutschland gibt, und dass es Zeit brauche, das wolle er seinen Leuten vermitteln. Seit er im Amt sei, mahne er zur Geduld. Dass es keinen Grund zur Panik gibt, sagt er seinen Leuten dann, und dass sie sich zusammenreißen sollen. "Das", sagt Imran, "das ist hier meine Aufgabe."

Keine Prügeleien, weniger Streit

Joul Korkis, Ingenieur aus Syrien, hat die Neuigkeiten von seinem Vertreter Shehad erfahren. Er steht am Stockbett, faltet einen Pullover zusammen. Der 26-Jährige hat ein unteres Bett abbekommen - ein Vorteil, weil man es von oben mit Tüchern verhängen kann und dann etwas Privatsphäre hat.

"Es stimmt schon", sagt Korkis, "verändert hat sich seither kaum etwas." Die Schlangen vor der Dusche, die fehlende Privatsphäre. Lange sei das ein Gefühl von Ohnmacht gewesen, sagt Korkis. "Jetzt fühlt sich anders an", sagt er. Und ja, es gebe keine Prügeleien mehr, weniger Streit, "weil die Nationensprecher dann sofort eingreifen und vermitteln".

Es ist spät geworden in Markt Schwaben, die Tischtennisspieler haben die Schläger auf die Platte gelegt, einige sitzen noch zusammen und diskutieren, die meisten Männer haben sich unter ihren Decken verkrochen. Es hat wieder Prügeleien und Messerstechereien gegeben seit diesem Sonntagabend, aber woanders in Bayern, nicht in Markt Schwaben. Die Polizei meldet, dass es in der Dreifachturnhalle seit einem Monat auffällig ruhig ist, keine Einsätze, außer einmal, als wegen einer Zigarette auf der Toilette der Rauchmelder anging.

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