Markt Schwaben:Ein Tunnel in die Freiheit

Markt Schwaben: "Wir haben die Mauer im wahrsten Sinne des Wortes untergraben", erzählt Jürgen Sonntag den Markt Schwabener Zehntklässlern.

"Wir haben die Mauer im wahrsten Sinne des Wortes untergraben", erzählt Jürgen Sonntag den Markt Schwabener Zehntklässlern.

(Foto: Christian Endt)

Jürgen Sonntag berichtet im Gymnasium Markt Schwaben über den geheimen Weg, mit dem er 57 Menschen im Jahr 1964 die Flucht aus der DDR ermöglicht hat.

Von Annalena Ehrlicher, Markt Schwaben

140 Meter lang, einen Meter breit und 80 Zentimeter hoch war der Tunnel, durch den im Sommer 1964 57 DDR-Bürger nach Westberlin flüchteten. "Ein besonderes Ereignis" sei das gewesen, berichtete Jürgen Sonntag, DDR-Zeitzeuge und Fluchthelfer, am Montag im Theatersaal des Franz-Marc-Gymnasiums Markt Schwaben vor etwa 150 Schülern der zehnten Klasse. Sonntag, der inzwischen in Paderborn lebt, gehörte zu 24 Leuten, die über Monate hinweg einen Tunnel zwischen Ost-und Westberlin bauten.

"Was waren Ihre persönlichen Gründe, da mitzumachen?", wollte eine Schülerin wissen. "Tja, da gab es wohl drei verschiedene", antwortete Sonntag. Zum einen wollte er natürlich tatsächlich denjenigen, "die es nicht ertragen konnten", helfen. Ein anderer Aspekt sei für ihn als jungen Studenten der Mathematik und Physik aber auch das Abenteuer gewesen, das mit so einem Plan einherging. Und nicht zuletzt sei es darum gegangen, "unsere kleine politische Tat zu vollbringen", sagte er mit einem leichten Lächeln. "Wir haben die Mauer im wahrsten Sinne des Wortes untergraben."

Für die Schüler sind Sonntags Erlebnisse Geschichte

"Natürlich ist das für uns interessant", sagte Sonntags Enkelin Luisa Warmer, die das Gymnasium besucht, nach dem Vortrag. Ihr Großvater sprach bereits zum dritten Mal in Markt Schwaben über seine Erfahrungen mit dem Tunnelbau, "raus aus der kommunistischen Diktatur" in die "freie, demokratische Republik", wie er sagte. Präsent sei die Zeit des geteilten Deutschlands in ihrer Familie, der Vater ist ehemaliger DDR-Bürger, der Großvater Fluchthelfer. Luisa selbst ist Jahrgang 2000 - was ihr Großvater erlebt hat, ist für sie Geschichte.

"Die Schüler können auf viel Wissen zurückgreifen", erklärte Simon Leicht, einer der Lehrer der zehnten Klassen. Für die Zehntklässler ist in Geschichte der Kalte Krieg eines der Schwerpunktthemen. "Aber es ist natürlich super, einen Zeitzeugen hier zu haben, der so natürlich von all dem erzählt", fügte Leicht hinzu.

Der Tunnel-Eingang lag in einer alten Außentoilette

Mehr als hundert Tunnel seien über die Jahre ausgehoben worden, die meisten "wurden allerdings verraten", so Sonntag. "Man durfte niemandem bescheid geben, sondern musste sich irgendwie verdrücken", erzählte er. Nicht einmal seine Eltern habe er von seinen Plänen unterrichtet. Auf einem der zahlreichen Fotos, die der ehemalige Lehrer zeigte, sieht man die 100 Meter breite Sperrzone, die an die Berliner Mauer anschloss. Minen, bewaffnete Patrouillen, keine Pflanzen - ein toter Streifen, der die Flucht in den späten Jahren der DDR immer schwieriger machte. "Aber als wir den Tunnel gebaut haben, ging das noch", sagte er.

Der "Tunnel 57", der seinen Namen der Anzahl entkommener Flüchtlinge verdankt, führte von einer noch aus Kriegszeiten stammenden Außentoilette in der Strelitzstraße 55 im ehemaligen Ostberlin direkt in den Keller einer verlassenen Backstube. "Durch das Klo in die Freiheit", fasste Sonntag zusammen. Gegraben wurde etwa sechs Monate lang, immer mindestens 14 Tage am Stück, so Sonntag, sonst "wäre man ja aufgeflogen, wenn man immer raus- und reingerannt wäre". Geschlafen und gegessen haben die Helfer im Keller. Von Feldbetten und Schlafsäcken, Konservendosen und Passierscheinen in den Osten berichtete Sonntag - und erntete in 90 Minuten die ungeteilte Aufmerksamkeit der Schüler. "Konnten die Flüchtlinge persönliche Sachen mitnehmen?", wollte ein Jugendlicher wissen. "Wie viele Leute haben da gleichzeitig gearbeitet?", fragte ein anderer. Sonntag antwortete geduldig, humorvoll und häufig gegenwartsbezogen: "Damals waren die Gastgeber über die Flüchtlinge auch nicht nur begeistert", erzählte er und zuckte mit den Schultern. "Das wird heute alles wieder aktuell."

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