Kunstausstellung bis Ende Juli:Materialisationen des Unsichtbaren

Grundverschieden sind die Techniken von Franziska Polzer-Foreman und Reni Gaigl, deren abstrakte Bilder in der Forstinninger Galerie im Tiermuseum zu sehen sind

Von Alexandra Leuthner, Forstinning

Was macht es mit einem Menschen, wenn die eigene Mutter ihn nicht haben will? Wie lange dauert es, bis die Traumata einer Kindheit überwunden sind? Was ist es für ein Gefühl, den Schmerz einer Seele sichtbar zu machen, ihm ein Antlitz zu geben in der Kunst, ein Abbild, das für jedermann zu sehen ist? Wenn Reni Gaigl über ihre Bilder sprechen soll, erzählt sie zuallererst von ihren Erfahrungen im Kinderheim Gunterstorf in Freiburg, wo sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hat, Jahre über die zu sprechen ihr heute noch schwer fällt. Es gibt ein Buch über jene Einrichtung, das ehemalige Heimkinder zu Wort kommen lässt, und ein in dieser Zeitung veröffentlichtes Foto, das auch Reni Gaigl zeigt, also das kleine Mädchen, das sie einmal war.

Galerie Tiermuseum / Polzer-Foreman & Gaigl

"Iseo II" gehört zu einer dreiteiligen Coudrage-Serie, in deren Mittelpunkt Franziska Polzer-Foreman Stoffreste aus der Umhüllung der "Floating Piers" von Christo gestellt hat.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Vor 18 Jahren zog sie mit ihrem Mann nach Hohenlinden und seit dieser Zeit beschäftigt sie sich mit der Malerei. Gelernt hat sie den Beruf einer Kindersäuglingsschwester, eröffnete in den 1970-er Jahren einen Second Hand Shop für Babys und Mütter in München, ließ sich in den 1980-ern im Umgang mit Keramik ausbilden. Aber erst die Malerei ist es, die ihr hilft, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Es ist, als würde sie all dem Leid, das irgendwo in ihr gespeichert ist, einen Weg durch die Farbe ebnen, als wäre sie ein Ventil.

Galerie Tiermuseum / Polzer-Foreman & Gaigl

Die Komposition aus Farben und verschiedenen chemischen Stoffen rechts nennt Reni Gaigl "Defekte Muschel".

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mit allen möglichen Materialien experimentiert sie: Acryl- und Aquarell, Tusche und Tinte, Beize und Phosphorescent, Oxidationsmedien und, so seltsam es klingen mag, Backpulver. Und dann probiert sie aus, wie die Stoffe aufeinander reagieren: Manche mögen sich, manche stoßen sich ab. Manchmal verlaufen sie ineinander, manchmal gehen sie getrennte Wege; hier zieht sich Türkis zu Tropfen zusammen, dort wird Blau von Beize verdrängt, braune Kanten oxidieren, Goldpulver schimmert aus der Tiefe vieler Farbschichten hervor, fluoreszierende Schimmer ziehen überraschende Spuren über bizarre Formen, entstanden aus Aktion und Reaktion. Gaigl verwendet ausschließlich Steinpapier. Hergestellt aus Kalksteinmehl besitzt es eine hohe Stabilität und eine samtige Oberfläche, die sich in den Bildern wiederfindet. In der Kombination entstehen geheimnisvolle Abstraktionen, ähnlich Farbdrucken, die aus dem Aufeinanderpressen von Scheiben zufällig hervor gegangen sind. Aber weit gefehlt. Gaigl bearbeitet die Farben und Zusatzstoffe mit einer Pipette. Was zufällig aussieht, folgt ihrer genauen Vorstellung, "sie müssen das tun, was ich will". Sie hat den Bildern Namen wie Der kleine Prinz, Goldader oder Ende eines Vulkans gegeben, und doch haben sie mit gegenständlicher Darstellung nichts zu tun. "Pudel oder Enzian zeichnen, das kann ich nicht", sagt Gaigl, "ich kann nur tanzen mit den Farben." Was als Abstraktion auf dem Papier landet, ist aber wohl doch konkreter als es aussieht, ist die Spiegelung der Seelenbilder, welche Reni Gaigl seit Jahrzehnten in sich trägt.

Galerie Tiermuseum / Polzer-Foreman & Gaigl

Franziska Polzer-Foreman (l.) und Reni Gaigl.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Kontemplatives, intuitives Arbeiten kennzeichnet auch Franziska Polzer-Foremans Bilder, auch ihre Werke sind - fast - ausschließlich - abstrakt. Und doch unterscheiden sie sich grundsätzlich von jenen Reni Gaigls. Womit Galeristin Renate Block einmal mehr ihrem Anspruch treu geblieben ist, immer möglichst gegensätzliche Künstler im Rahmen einer Ausstellung in der Galerie im Tiermuseum zu zeigen. "Coudrage" nennt sich die von der Grafinger Künstlerin selbst entwickelte Technik, aus Stoffen Bilder zu machen. Polzer-Foreman, seit vier Jahren Mitglied der Grafinger Maler, verarbeitet meist Stoffreste, zu großflächigen, und am Ende dreidimensionalen Materialisationen von Zuständen. Da ist das Vibrieren des Testbilds - wer der Röhrenfernseher-Generation angehört und mit nur drei Programmen und einem Sendeschluss aufgewachsen ist, wird sich erinnern. Kreisförmig angeordnete Stofflinien, übereinander und untereinander geklebt, der graue Stoff in sich ornamental strukturiert, erzeugt eine Art Rauschen - so auch der Name des Bildes -, das eine haptische und auditive Komponente zugleich zu haben scheint, selbst wenn einzig und allein die Augen den Formen nachspüren dürfen.

Sie müsse immer Schilder neben ihre Stoffbilder hängen, um die Besucher davon abzuhalten, sie zu berühren. Stoff härtet nie aus, bleibt immer dehnbar, formbar, weist weder Gerüche noch Fett, gar Schmutz zurück, verschluckt sogar Töne. Und gerade darin liegt der Ursprung der Coudrage-Technik. "Ich hatte eine neue Praxis", erzählt Pelzer-Foreman, die bis 2017 als Ärztin tätig war, zuletzt als Homöopathin in Grafing. Weil aber die Wände zu sehr gehallt hätten, "vor allem wenn der Schreibtisch aufgeräumt war", habe sie Materialien gesucht, die den Hall dämmen sollten. "Über der Liege war noch ein Platz frei", erzählt sie. Und über das Ausprobieren entstand das erste Coudrage-Bild, aus dem eine imposante Reihe mit sehr unterschiedlichen Darstellungen geworden ist. Der Himmel etwa ist in Auflösung begriffen, er zerfällt in seine Einzelteile und zieht sich im selben Moment wieder zusammen, Wolkenlöcher tauchen aus der Tiefe des Stoffes auf und schließen sich wieder, alles scheint in ständiger graublauer Bewegung. Bunte Fransen und überirdische Lichtgestalten tanzen dagegen auf den drei "Iseo-Bildern" über blauen Wassern - eine intuitive Reminiszenz an Christos Floating Piers, jene verkleideten Stege, die über den oberitalienischen Iseo-See führten und die Besucher über Wasser laufen ließen. Dorther stammen auch die Stoffreste, die Polzer-Foreman im Zentrum der drei Bilder verarbeitet und so der besonderen Atmosphäre des Ereignisses ein dauerhaftes Zeugnis geschaffen hat.

Die Ausstellung in der Forstinninger Galerie im Tiermuseum, Münchner Straße 26, ist bis Samstag, 28. Juli zu sehen.

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