Kommentar:Wir wissen noch nicht genug

Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hat auf lokaler Ebene gerade erst begonnen. Denn viele Menschen wollen nicht, dass der Nachbar, Bürgermeister oder Fußballkumpelt erfahren, dass der Opa ein Nazi war.

Von Gianna Niewel

Am vergangenen Dienstag hat der Holocaust-Überlebende Leslie Schwartz vor Jugendlichen in Markt Schwaben gesprochen. Es sind 70 Jahre vergangen, seit der Mühldorfer Todeszug durch den Landkreis gefahren ist, 70 Jahre seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Zeitungsartikel rücken die Verbrechen der Nazis ins Bewusstsein, selbst der Privatsender Vox arbeitet die Geschichte in einer zwölfstündigen Dokumentation auf. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen erinnern nicht nur in Berlin, Nürnberg oder Köln an die Greuel, sondern auch in kleineren Gemeinden. Es ist viel, was dieser Tage auf uns einwirkt. Und das ist gut so. Es ist richtig, dass die Jahre zwischen 1933 und 1945 vielfach erforscht wurden, Bücher über die NS-Zeit füllen Bibliotheken. Es ist falsch zu glauben, wir wüssten genug.

Anfang der Woche hat das Verfahren gegen den früheren SS-Unterscharführer Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg begonnen. Die Ankläger werfen dem 93-Jährigen Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen vor. Dass sich Gröning immerhin moralisch mitschuldig bekennt und seine Verantwortung nicht damit abwiegelt, nichts gewusst, nichts geahnt oder auf Befehl gehandelt zu haben, ist ein Novum. Lüneburg und der Auschwitz-Prozess, das ist die eine Ebene, die strafrechtliche. Auch geschichtlich sind noch lange nicht alle Lücken geschlossen, allen voran im Lokalen. Die Archivarbeit um den Mühldorfer Todeszug hat Heinrich Mayer, ehemaliger Geschichtslehrer im Markt Schwabener Franz-Marc-Gymnasium, in den vergangenen Jahren vorangetrieben - noch immer sind zentrale Fragen unbeantwortet.

Gerade auf dem Land, wo die Menschen nicht nur die Nachbarn kennen, sondern auch den Bürgermeister grüßen und mit dem Sachbearbeiter der Sparkasse Fußball spielen, dauert es, bis sie bereit sind, sich mit der eigenen, vielleicht unguten Familiengeschichte zu konfrontieren. Sie verdrängen nicht nur die Frage danach, welche Rolle die Eltern und Großeltern in der NS-Diktatur hatten. Sie möchten auch nicht, dass die Nachbarn, der Bürgermeister oder eben der Fußballkumpel erfahren, dass der eigene Opa ein Nazi war. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hat auf lokaler Ebene gerade erst begonnen.

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