Gymnasium Kirchseeon:"Graffiti never dies"

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In einem P-Seminar dokumentieren zehn Schüler des Gymnasiums Kirchseeon die vergessene und doch so beeindruckende künstlerische Vergangenheit des Bahnschwellenwerks.

Von Sophie Burfeind, Kirchseeon

Die Graffiti haben die Schüler des P-Seminars stark beeindruckt. Zu sehen sind: Benjamin Hecker, Tobias Kaspar, Florian Sutor, Jessica Stempel, Hannah Gatter, Luise Möller (von links). (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Einst muss es ein gigantisches Freilichtmuseum gewesen sein. Riesige Bilder von verfremdeten Tieren, Eisenbahnen, fantastische Motiven auf alten Fabrikwänden, an verrosteten Türen und alten Mauern. Auch nackte Frauen räkelten sich unter freiem Himmel. Jahrzehntelang trafen sich Sprayer aus aller Welt auf dem ehemaligen Bahnschwellenwerkgelände in Kirchseeon, um sich dort mit ihren Graffiti zu verewigen. Das Gelände war gesperrt und so konnten die Künstler unbehelligt arbeiten. Viele von ihnen - darunter der Kirchseeoner Rafael Gerlach, eher bekannt als SatOne, - sind mittlerweile berühmte Street-Art-Künstler.

Mit dem Verewigen klappte es aber nur bedingt. Vor sechs Jahren wurden die Gebäude auf dem ehemaligen Iveco-Gelände abgerissen - seitdem keine Spur mehr von Kunstwerken. Zumindest zweidimensional verewigt sind sie jedoch, denn Elmar Kramer vom Heimatkundeverein Kirchseeon war regelmäßig auf dem Gelände unterwegs, um die Graffiti zu fotografieren. Fast zehn Jahre lang machte er das. Und hatte schließlich mehr als 2000 Bilder gesammelt, bevor diese für immer im Bauschutt versanken. Einige der Graffiti waren vor vier Jahren in einer Ausstellung des Heimatkundemuseums zu sehen, doch der Großteil lagerte in Kisten verstaut in Elmar Kramer Keller.

Hier eine Archivaufnahme kurz vor dem Abriss der Hallen. (Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Aus diesem verborgenen Archiv brachten Schüler des Gymnasiums Kirchseeon die vergessenen Kunstwerke nun wieder ans Licht. In einen Katalog, um genau zu sein. An dem arbeiteten die zehn Schüler des P-Seminars "Graffiti never dies" ein Jahr lang. Nun ist er fertig. 60 Seiten lang, mit Bildern, der Geschichte des ehemaligen Iveco-Geländes und einem Interview mit dem Künstler SatOne. Auch einen Film haben die Schüler über ihr Projekt gedreht. Im Januar werden sie beides in den Kunsträumen der Schule präsentieren.

Man könnte meinen, dass Graffiti ein Thema ist, das grundsätzlich viele Jugendliche anspricht - mehr vielleicht als die Madonnen berühmter Renaissancemaler. Doch viele der Teilnehmer des P-Seminars hatten ganz persönliche Gründe, weshalb sie sich mit der einstigen Street-Art auf dem Bahnschwellengelände auseinandersetzen wollten. Tobias Kasper erzählt, dass er die Graffiti schon als Kind bewunderte, wenn er an dem Gelände vorbei lief: "Es hat mich echt fertig gemacht, als die Gebäude abgerissen wurden und natürlich fand ich es cool, als dann dieses Seminar angeboten wurde." Auch Jessica Stempel, die seit 16 Jahren in Eglharting lebt, kannte die Kunstwerke von Spaziergängen mit ihren Eltern: "Ich fand es auch schade, als die dann auf einmal alle weg waren." Luise Möller hingegen hat "gute Kontakte" zur hiesigen Sprayer-Szene - und war deshalb an dem Thema interessiert.

Die Teilnehmer des Seminars waren also schnell gefunden. Doch damit aus der Anfangsidee - die Geschichte der Graffiti zu dokumentieren - ein derart professioneller Katalog entstehen konnte, mussten die Schüler und die beiden Lehrerinnen, Stefanie Haschler (Kunst) und Julia Reisinger (Geschichte) einen langen Weg zurücklegen. Zunächst überlegten die Schüler sich, was sie mit den vielen Fotos, die Elmar Kramer ihnen zur Verfügung gestellt hatte, überhaupt anstellen sollten. "Wir wollten etwas machen, das andauert", sagt Luise, "eine Ausstellung ist ja nur kurzweilig. Deswegen haben wir uns für einen Katalog entschieden: Den kann man öfter anschauen." Dann ging es los mit Sortieren und Auswählen der geeigneten Bilder. "Wir haben nur die genommen, die uns gefallen haben", sagt Hannah Gatter. Und weil klar war, dass Rafael Gerlach die Schüler besuchen würde, nahmen sie eben die meisten von ihm. Die Auswahl der Werke sei gar nicht so schwierig gewesen, wie man denken könnte, erinnert sich Stefanie Haschler: "Qualität teilt sich jedem mit." Auch gefielen den Schülern die Bilder besser als die sogenannten Tags, verschlungene Schriftzüge, die typisch für Graffiti sind. "Bilder, die kreativ oder fotorealistisch sind, sind schon beeindruckender", erklärt Benjamin Hecker.

An Faszination gewannen die Graffiti für die Schüler zusätzlich dadurch, dass sie deren Entstehungsgeschichte und Stile kennen lernten und versuchten, die Bilder gemeinsam mit einer Künstlerin aus Moosach zu analysieren. "Die hat das unter den Aspekten einer klassischen Bildanalyse untersucht", erklärt Julia Reisinger, "und es war erstaunlich, wie viel man feststellen konnte." Durch diese wissenschaftliche Betrachtung der Bilder veränderte sich bei vielen Schülern der Blick auf die Graffiti: "Ich schaue sie jetzt viel genauer an, wenn ich mal eins sehe", sagt Jessica Stempel - und ihr Mitschüler Florian Sutor ergänzt: "Ich habe vorher nicht gedacht, dass Graffiti wirklich eine Kunstform ist."

Der Höhepunkt des Seminars aber war der Besuch von Rafael Gerlach, wovon Schüler und Lehrer immer wieder ganz begeistert erzählen. "Wir waren alle positiv überrascht. Er war sehr reflektiert und sehr bemüht", sagt Reisinger. "Ganz normal und überhaupt nicht abgehoben", fügt Haschler hinzu. In einem Interview fragten die Schüler ihn, wie die Atmosphäre zwischen den Künstlern gewesen sei, wie er sich dann etabliert habe und ließen sich auch die Bedeutung einiger Bilder erklären. Wie etwa jenes mit den hübschen, flauschigen Tieren, die sich durch die Pillen einer Hexe in brutale Bestien verwandeln. Doch eine schmerzliche Erfahrung mussten die Schüler machen: Je mehr sie in die einst blühende Kunstszene des Fiat-Geländes eintauchten, desto stärker wuchs ihr Bedauern darüber, dass von dem einstigen Freilichtmuseum nichts geblieben ist.

Katalog und Film werden am Donnerstag, 8. Januar, von 15.30 Uhr an in den Kunsträumen des Gymnasiums präsentiert.

© SZ vom 08.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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