Inklusion:Noch lange nicht barrierefrei

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Franz Wallner vom Einrichtungsverbund Steinhöring (rechts) wirbt für ein Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Einrichtungsverbund Steinhöring stellt sich bei einem Aktionstag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung vor. Zwar hat sich einiges getan, doch noch immer ist Inklusion in vielen Bereichen eine Wunschvorstellung

Von Lea Weinberg, Ebersberg

Auch wenn die ausgelegten Flyer mit Kerzen auf den Tischen beschwert sind, stellt Franz Wallner vom Einrichtungsverbund in Steinhöring klar: "Wir sind kein Weihnachtsmarkt." Stattdessen will der Leiter für Kultur und Ehrenamt hier vor der Ebersberger Speisekammer ein Signal für einen Ort der Begegnung setzen, wo Menschen mit Behinderung auf Menschen ohne Behinderung treffen und Kontakte knüpfen können. Miteinander statt übereinander reden, das ist das Ziel des Aktionstages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Vor allem jüngere Leute sollen mit einer Selfie-Aktion angesprochen werden. Die seien nämlich meist aufgeschlossener, sagt Jürgen Wipfelder, der im Wohnheim Haus Moosteffl als Betreuer für psychisch Erkrankte arbeitet.

Der Einrichtungsverbund in Steinhöring umfasst verschiedene Wohnmöglichkeiten sowie Arbeit- und Freizeitangebote für Menschen mit Behinderung oder psychischen Krankheiten. Steinhöring sei bei dem Thema Integration und Inklusion eine Vorzeigegemeinde, findet Wallner. Seit 40 Jahren gibt es in dem Ort Wohngruppen, in denen Menschen ihr Leben individuell gestalten können. So wie Sabine Decker: Sie wohnt in einer eigenen Wohnung in einer Hausgemeinschaft. Momentan absolviert sie eine Ausbildung bei einer Metzgerei. "Das ist ein Glück für mich", sagt sie. Eine bessere Integration im Arbeitsmarkt könne stattfinden, wenn Unternehmen Mitarbeiter einstellen, die neben ihrer Tätigkeit auch Behinderte begleiten können, erklärt Wallner. David Kruzolka, der auch in Steinhöring wohnt, fügt hinzu, dass auch bei den Erwachsenen eine Begleitung vonnöten sei. Das werde aber immer noch viel zu wenig gemacht, kritisiert Wallner. Zwar funktioniere die Inklusion vor allem in Steinhöring schon lange und gut, "doch dass Bayern bis 2022 barrierefrei ist, das ist ein Witz". Dieses Ziel hatte das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2014 beschlossen.

Auch David Kruzolka, der selbst im Rollstuhl sitzt, hat Probleme, im Landkreis hinzukommen, wohin er will. Vor allem der neu gebaute Bahnhof in Steinhöring stellt für ihn ein großes Problem dar. Denn der modernisierte Bahnhof ist für Rollstuhlfahrer schlicht ungeeignet. "Da spricht man ständig über Inklusion und dann komme ich nicht in den Zug rein", sagt er und kündigt an: "Da werde ich keine Ruhe geben." Er spricht aber auch ein Lob aus, denn heutzutage würde er von seinen Mitmenschen mehr akzeptiert werden. "Eine Behinderung kann jeden erwischen", sagt Kruzolka. "Da muss man einfach jeden Tag das Beste daraus machen."

Betreuer Jürgen Wipfelder ist vor allem die Aufklärung der Bevölkerung wichtig. "Viele Menschen können sich unter seelischer Behinderung wie Depressionen, Schizophrenie oder Psychosen nichts vorstellen", sagt er. Dass eine Depression etwas anderes ist, als mal einen schlechten Tag zu haben, würden viele nicht wissen. Ebenso wenig, wie jemand mit einer Psychose die Welt erfährt. Um frühzeitig Missverständnissen und Berührungsängsten vorzubeugen, "müsste man psychische Krankheiten auch in den Lehrplan der Schulen einführen", findet Wipfelder. Auch beim Haus Mossteffl gab es anfangs große Vorbehalte von Anwohnern. "Wenn der Kontakt entsteht, merken die meisten, dass da ja gar nichts passiert", sagt Wipfelder. Vor allem im Beruf und auf der Suche nach einer Wohnung haben seelisch Behinderte mit dem Problem der Stigmatisierung zu kämpfen. "Die meisten haben deshalb große Angst, überhaupt erkannt zu werden", weiß der Betreuer. In der Einrichtung Moosteffl gehen vor allem Männer in Behandlung. "In unserer Gesellschaft ist meist der Mann noch Hauptverdiener, da bricht das Sozialsystem einfach schneller zusammen", sagt Wipfelder. Vor allem alleinstehende Frauen würden die Krankheit oft mit Alkohol kompensieren, ohne sich sozialpsychiatrisch behandeln zu lassen. "Das wird sich aber in ein paar Jahren ändern", sagt Wipfelder im Hinblick auf den Wandel der Geschlechterrolle.

Was sich über die Jahre wenig geändert habe, sei die ehrenamtliche Unterstützung des Einrichtungsverbundes in Steinhöring, so Franz Wallner. Zwar sei die Personalbesetzung noch ausbaufähig, so der Leiter von Kultur und Ehrenamt, jedoch würden derzeit auch 100 Ehrenamtliche mitwirken. Das sei erfreulich, vor allem im Vergleich zu anderen Landkreisen. Auch in Rosenheim ist Franz Wallner als Ehrenamtskoordinator tätig, dort werden die Stellen aber deutlich weniger besetzt als im Landkreis Ebersberg, obwohl der Bedarf der Gleiche sei. "Wir freuen uns immer über Leute, die das interessiert", betont er. Auch die Bundesfreiwilligendienststellen werden im Einrichtungsverbund gut angenommen. Von 30 möglichen Stellen sind meist 85 bis 90 Prozent besetzt. Auf einen weiteren Zulauf hoffen die Einrichtungen nach den Abiturprüfungen, so Franz Wallner: "Wir brauchen Leute, die mit den Bewohnern Ausflüge machen und Fußball spielen oder Bowlen gehen."

Der Einrichtungsverbund Steinhöring bietet neben Arbeit- und Freizeitangeboten auch Reisen an. Im hauseigenen Reisebüro können körperlich und seelisch Behinderte Reisen buchen. Mehr als 350 Menschen haben das Angebot schon angenommen. Neben dem Besuch von Veranstaltungen ist es auch möglich, europaweite Reisen zu buchen. "Da ist es allen erst einmal egal, was für eine Behinderung vorliegt", sagt Wallner.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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