Haar/Vaterstetten:Ungelöstes Rätsel

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Am 5. Mai 1945 unterzeichnete General Hermann Foertsch die bedingungslose Kapitulation seiner Heeresgruppe. Aber wo? Die einen nennen das Thorak-Atelier in Baldham, andere sprechen vom früheren HJ-Heim in Haar

Von Bernhard Lohr, Haar/Vaterstetten

Es waren turbulente Tage und Wochen, auch im Osten von München. Amerikanische Bomber flogen am 24. März 1945 einen massiven Angriff auf den Riemer Flughafen. Ungeachtet dessen wurde Ende März noch der Jagdverband 44, eine Einheit der zweistrahligen Düsen-Jagdbomber, stationiert. Die Flugzeuge vom Typ Me-262 wurden dabei zum Schutz vor Luftangriffen im Wald versteckt. Auch im Wald bei der Heil- und Pflegeanstalt in Haar standen Jets. KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene mussten zu diesem Zweck Kieswege aufschütten. Nur einen Monat später besiegelten wenige Kilometer entfernt deutsche und US-amerikanische Generäle das Kriegsende in Süddeutschland.

Es gibt einige Zeugnisse, aus denen hervorgeht, wie die Menschen die letzten Kriegstage erlebten. Die Pfarrer im Erzbistum München-Freising führten fast flächendeckend Bericht und schilderten die Lebensumstände der Menschen. "Was keine Mission, . . . keine Predigten fertig gebracht haben, haben die Bomben zu Wege gebracht: die Pfarrkinder von Ottendichl haben wieder zu beten angefangen", notierte Pfarrer Anton Kastner in seinem Seelsorgebericht für die Kriegsjahre 1944 und 1945. Schüler des Humboldt-Gymnasiums in Vaterstetten werteten diese Quellen aus, als sie vor einigen Jahren in einem von Historikern begleiteten Ausstellungs- und Buchprojekt die Ereignisse des Kriegsendes 1945 beleuchteten. Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie dabei der Kapitulation von Haar, einem besonders bedeutenden und auch besonders gut belegten Vorgang. Schließlich gibt es darüber, was im sogenannten Thorak-Atelier in Baldham und womöglich auch im HJ-Heim in Haar geschah eine ganze Reihe an Aufzeichnungen, einiges an Bildmaterial und Filmaufnahmen. Wer genau hinhört, kann auf der Tonspur sogar vernehmen, wie US-General Jacob L. Devers, Kommandeur der 6. US-Heeresgruppe, seinem Gegenüber, General Hermann Foertsch, auf eine längere Rede hin ein trockenes "Unconditional Surrender" entgegenschleudert. Ort dieser Zusammenkunft ist ohne Frage das Atelier von Josef Thorak, dem Adolf Hitler als einer seiner favorisierten Bildhauer eine imposante Werkstatt mit einer 17 Meter hohen Halle und weiten Toren hatte errichten lassen, um dort die monumentalen Skulpturen, die der nationalsozialistischen Ästhetik entsprachen, fertigen zu können.

Unterzeichnete General Hermann Foertsch die bedingungslose Kapitulation seiner Heeresgruppe im Thorak-Atelier in Baldham? (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Im "After Action Report" der 6. US-Armee aus dem Jahr 1945 wird geschildert, wie sich die Delegationen begegneten. "Als General Devers und seine Begleitung sich der deutschen Delegation vor dem Gebäude näherten, nahmen die Deutschen Hab-achtstellung an. Es wurde kein Ehrengruß gewechselt", so heißt es in einer Übersetzung. Schließlich seien die Verhandlungspartner "gemessenen Schrittes durch die prächtigen Metalltüren" gegangen und "rechts in das Kapitulationszimmer" gebogen. "Ein riesiger Tisch aus Naturholz, über sieben Zentimeter dick, nahm die Mitte des Zimmers ein. Dazu passende große Stühle waren an beiden Kopfenden und an den Seiten entlang platziert."

Diese Beschreibung deckt sich mit den Filmaufnahmen und den Fotografien, die einmal General Devers und General Foertsch zeigen, wie sie in feierlicher Atmosphäre, von den umgebenden Personen in aufmerksamer Haltung verfolgt, ein Dokument unterzeichnen. Als die "Kapitulation von Haar" vom 5. Mai 1945, die mit Inkrafttreten am 6. Mai, 12 Uhr, für Zehntausende Soldaten in Süddeutschland den Krieg beendete, hat dieses Ereignis in die Geschichtsbücher Eingang gefunden. Ein Vorgang der natürlich Fragen aufwirft. Wieso denn nun plötzlich Haar?

Vermutlich war das Thorak-Atelier Ort der Kapitulation, eine Klärung ist aber kaum möglich. (Foto: Rue des Archives/Tallandier)

Auf der Kapitulationsurkunde selbst ist als Ort der Unterzeichnung "Haar" vermerkt. Im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht aus dem Jahr 1961 wird Haar als Kapitulationsort genannt. Der Zeitzeuge, Hauptmann Hans-Otto Behrendt, der als Dolmetscher und Verbindungsoffizier an den Kapitulationsverhandlungen teilnahm, hat in einem Dokument aus dem Jahr 1973 rückblickend konkret das HJ-Heim in Haar als Ort der Verhandlungen benannt. Vom Thorak-Atelier ist bei ihm keine Rede. Nach seiner Schilderung fuhren die deutschen Offiziere am 5. Mai in amerikanischen Fahrzeugen direkt "nach München-Haar, wo in der Halle des ehemaligen HJ-Heims die Kapitulationsverhandlungen stattfanden". Behrendt beschreibt in diesem Zusammenhang übrigens, wie General Foertsch versucht habe, mit der Gegenseite über "Conditions" einer Waffenniederlegung zu sprechen. Ein Oberst habe dies in "schneidendem" Ton abgewürgt und auf einen "Unconditional Surrender", also eine bedingungslose Kapitulation der Deutschen, bestanden.

Die Gemeindearchivarin in Haar, Kirsten Stahmann, hat sich ob der offensichtlichen Widersprüche in die Materie eingearbeitet und Quellen gesichtet. Eine eindeutiges Bild hat sich bisher nicht ergeben. Sie fragt unter anderem, in welchem Zusammenhang es zu der Dokumentation der Vorgänge durch Behrendt im Jahr 1973 gekommen ist. Es könnte ein formal-rechtlicher Vorgang dahinter stehen. Das Papier ist in den Hoover Institution Archives in Stanford, California, aufbewahrt. Im Gemeindearchiv in Haar befindet sich jedenfalls auch noch ein Schreiben aus dem Jahr 1986, in dem es heißt: "Hauptmann Behrendt hat 1980 Haar besucht und das ehemalige HJ-Heim identifiziert." Um die Verwirrung komplett zu machen, existiert auch noch eine Fotografie, die die These vom HJ-Heim stützen könnte. Es zeigt General Foertsch, wie er in Anwesenheit von amerikanischen und deutschen Soldaten, die auch auf den anderen Fotografien zu sehen sind, ein Dokument unterzeichnet. Nur findet dies diesmal offenkundig an einem anderen Ort und auch unter anderen Umständen statt. Alles wirkt improvisiert. Foertsch trägt noch seinen Mantel. Das Umfeld, die Vorhänge im Hintergrund etwa, könnten zum HJ-Heim in Haar passen.

Beide Fotos zeigen den General beim Unterschreiben der Kapitulation, beide sind offensichtlich an unterschiedlichen Orten gemacht worden. (Foto: privat)

Die Menge an Dokumenten verstärkt sogar noch die Verwirrung. So wird, wie Archivarin Stahmann entdeckt hat, in dem Buch "Destination Berchtesgaden" der Bericht eines Oberstleutnants Cabot Lodge jr., der von einer Kapitulation im Thorak-Atelier, und eben nicht im HJ-Heim in Haar spricht, damit erklärt, dass dieser "einer Erinnerungstäuschung unterlag, als er im Nachhinein einen Besuch in diesem Atelier mit dem Kapitulationsort zusammenbrachte". Jedenfalls geht es in der Literatur und auch schon bei der Beschriftung der historischen Fotografien wild durcheinander. Da ist schon auch mal vom Thorak-Atelier in Haar die Rede. Eine eindeutige Zuordnung hält Stahmann nach bisheriger Quellenlage für schwer möglich. Manches spreche dafür, dass das Thorak-Atelier dem Ort Haar zugeordnet worden sei, die Kapitulationsverhandlungen und auch die Unterzeichnung der Kapitulation auf dem Thorak-Anwesen in Baldham stattgefunden hätten; als Ort sei dann aber Haar in die Kapitulationserklärung eingetragen worden, weil das Atelier ja auch als solitäres Gebäude nur schwer einem Ort zuzuordnen gewesen sei. Die Aussage von Hans-Otto Behrendt aus dem Jahre 1973 sei allerdings rätselhaft.

Bernhard Schäfer, Historiker und Leiter des Museums in Grafing, hat sich intensiv mit dem Kriegsende in der Region befasst. Auch er sieht vor allem das Thorak-Atelier als Ort des Geschehens. Es sei ein repräsentatives Gebäude gewesen, mit aufgezogenen Fahnen vor dem Gebäude; genau der Ort, um solch eine bedeutende Handlung wie eine Kapitulation zu vollziehen. Er hält es für möglich, dass in Haar die Kapitulation paraphiert - also vorläufig erklärt - worden sein könnte. Der offizielle Akt habe dann im Thorak-Atelier stattgefunden. Das Bildmaterial stützt diese These auf jeden Fall. Egal, was kommt. Die "Kapitulation von Haar" dürfte die "Kapitulation von Haar" bleiben. Haar ist als Ort des Geschehens auf dem Dokument fixiert.

© SZ vom 08.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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