Messerattacke in Grafing-Bahnhof:Drehbuch eines Massakers

Messerattacke in Grafing-Bahnhof: Mit Blumen und Kerzen haben die Grafinger nach den furchtbaren Ereignissen am Bahnhof den Opfern im Mai 2016 gedacht.

Mit Blumen und Kerzen haben die Grafinger nach den furchtbaren Ereignissen am Bahnhof den Opfern im Mai 2016 gedacht.

(Foto: Christian Endt, Fotografie & Lic)

Von Montag an steht der Messerstecher von Grafing-Bahnhof vor Gericht. Der psychisch Kranke soll einen Wasserburger getötet und drei Grafinger schwer verletzt haben. Die Anklage beschreibt einen Morgen des Grauens.

Von Korbinian Eisenberger

Siegfried W. soll noch "Geh weg" gerufen haben. Doch da ist es schon zu spät. Es ist 4.56 Uhr, als ein Mann in Todesangst über den Bahnsteig rennt und um Hilfe schreit. Verfolgt von Paul H., damals 27. Er soll ein Messer in der Hand gehabt haben, so beschreibt es die Anklage. Am Bahnhofsplatz habe er den Mann dann laufen gelassen und von hinten auf einen anderen eingestochen, der ihm zufällig über den Weg gelaufen sei: Siegfried W. Das Messer erwischt den 56-Jährigen am Hals. W. habe noch zu flüchten versucht, doch Paul H. soll ihn bis in die S-Bahn verfolgt haben, wo er dem am Boden liegenden Mann neun Messerstiche versetzt haben soll. Wenig später stirbt der Wasserburger Familienvater in einem Krankenhaus.

Die Tat eines jungen Mannes aus Gießen erschütterte vor einem Jahr die Menschen in der Region. Was am frühen Morgen des 10. Mai 2016 in Grafing-Bahnhof passierte, war am Tag danach bundesweit in den Zeitungen zu lesen. Die Messerattacke des offenbar psychisch kranken Paul H. mit einem Toten und drei Schwerverletzten ging als eines der traurigsten Kapitel in die Geschichte des Ebersberger Landkreises ein. An diesem Montag, 9.30 Uhr, steht Paul H. nun vor dem Münchner Landgericht. Der mittlerweile 28-Jährige muss sich wegen Mordes und dreifach versuchten Mordes verantworten.

Für den Prozess sind fünf Verhandlungstage angesetzt. Die entscheidende Frage dürfte sein, ob Paul H. damals schuldfähig war. Der 28-Jährige befindet sich in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik. Ein Gutachten attestiert ihm eine "bipolare affektive Störung", eine Form von Verfolgungswahn. Sollte sich das Attest bestätigen, käme es wohl zu einer dauerhaften Unterbringung in einer Psychiatrie.

"Er will sein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken."

Davon geht Paul H.'s Verteidiger Florian Alte aus, der Anzinger Rechtsanwalt ist Spezialist für Strafrecht. Am Freitag teilt er auf Nachfrage mit, dass es seinem Mandanten mittlerweile gesundheitlich besser gehe, "dass ihm bewusst ist, was er angerichtet hat". Es habe auch Kontakt zu den Überlebenden gegeben, um sich zu entschuldigen. Paul H. werde im Gerichtssaal selbst sprechen, das sei der Plan. H. wolle eine umfangreiche Stellungnahme abgeben, sagt Alte: "Darin wird er die Tat aller Voraussicht nach einräumen. Er will sein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken."

Es müssen grausige Szenen gewesen sein, die sich gegen fünf Uhr auf dem Bahnsteig abspielten. Die Antragsschrift - wegen des Attests gibt es keine Anklageschrift - ist detailliert. Die Staatsanwaltschaft München II geht davon aus, dass es sich genau so zugetragen hat. Vier Seiten geben Einblicke in die Gedankenwelt, in der sich Paul H. wohl befand, und lesen sich wie das Drehbuch eines Horrorfilms.

9. Mai 2016, Montagmorgen, Paul H. habe gegen den Rat der Ärzte die psychiatrische Klinik in Gießen verlassen und sei mit dem Zug nach München gefahren. Laut Staatsanwaltschaft will H. über Österreich auf die Azoren auswandern, weil er sich in Deutschland verfolgt fühle. In München angekommen habe ihn kurz nach Mitternacht der Wahn gepackt: Er habe zwei Sicherheitsbeamte gesehen und für Mitglieder einer nicht existenten "Islampolizei" gehalten. Fluchtartig sei er in den nächstbesten Zug gestiegen - der zufälligerweise nach Grafing fuhr.

Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf

Dort nimmt der Wahnsinn seinen Lauf: Weil der Bahnhof um 1.39 Uhr menschenleer ist, habe H. den Gedanken entwickelt, dass Grafing "von Muslimen ausgerottet" worden sei. Daraufhin habe er beschlossen, sich zum Selbstschutz dem Islam anzuschließen und so viele "Ungläubige" wie möglich zu töten. Dass so ein Akt mit der Religion des Islam nichts zu tun hat, scheint H. nicht bewusst zu sein, er ist in seiner eigenen Welt. Jetzt passiert Unvorstellbares, der Grund, weswegen 300 Menschen am Tag danach in der Stadtpfarrkirche trauern und wohl bis heute nach Erklärungen suchen.

Es ist Dienstagfrüh, gleich fährt die erste S-Bahn nach München. Der Grafinger Manfred M. sei gerade über den Bahnhofsplatz zum Zug gegangen, als ihm Paul H. unvermittelt eine zehn Zentimeter lange Messerklinge in die Herzgegend gerammt und den Kampfruf islamistischer Attentäter, "Allahu akbar", gerufen haben soll. Manfred M. sei geistesgegenwärtig in ein Taxi geflüchtet, das sofort losfährt. Das Brustbein des damals 65-Jährigen ist durchstochen, durch Zufall bleiben sein Herz und seine Lunge unversehrt.

Die Staatsanwaltschaft bleibt detailliert: Es ist kurz vor fünf, als Paul H. von Jens O. aus Grafing gefragt worden sei, ob es ihm gut gehe. Ihm habe Paul H. von hinten in den Rücken gestochen, sechs Zentimeter neben die Wirbelsäule. Wenig später erwischt es einen Zeitungsausträger, der mit dem Fahrrad vorbeifährt. Ihm soll H. zweimal knapp neben der Wirbelsäule in den Rücken gestochen und "Du Ungläubiger gerufen haben. Der jetzt 56-Jährige Grafinger hat seither eine Halbseitenlähmung, zieht einen Fuß nach. Laut Anklage hat Paul H. drei Menschen schwer verletzt. Während der Verfolgung von Jens. O. sei er dann seinem vierten Opfer Siegfried W. begegnet. Danach habe er sich widerstandlos von der eingetroffenen Polizei festnehmen lassen.

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