Grafing:Ein Gespür fürs anders sein

In einem Inklusions-Workshop erfahren Grafinger Jugendliche, wie es ist, im Rollstuhl unterwegs zu sein, kaum sehen zu können oder mit einer Lähmung zu kämpfen

Von Jessica Morof, Grafing

Leonie setzt sich in den Rollstuhl, legt die Finger fest um den Rahmen am Rad und schiebt sich damit vorsichtig an. Ein bisschen zu vorsichtig, denn der Stuhl bewegt sich nur ein kleines Stück. Also gibt die Fünftklässlerin dem Rad beim zweiten Versuch einen kräftigeren Stoß und rollt tatsächlich ein ganzes Stückchen weiter - bis sie wieder hält. Vor ihr liegt ein großes Holzbrett auf dem Boden, über das sie drüber muss. Doch das ist gar nicht so einfach. Mehrmals fährt sie gegen das Hindernis, bekommt die Reifen aber einfach nicht drauf. "Wie benutzt man so ein Teil?", ruft sie in die Runde aus umstehenden Schülern - und eine Freundin kommt ihr zur Hilfe. Gemeinsam gelingt es, den Rollstuhl über das Brett zu schieben. Danach rollt Leonie wieder alleine weiter und schafft den ganzen Weg durch einen Parcours aus Stühlen.

Eine wichtige Lektion haben die beiden Mädchen schon gelernt: Menschen mit Behinderungen brauchen manchmal Unterstützung; sie können aber auch viele Dinge sehr gut alleine schaffen. Und das ist auch das Ziel des Workshops zur Inklusion, der an der Mittelschule Grafing angeboten wurde: Die Ängste der Kinder vor Menschen mit Einschränkungen nehmen. Ulrike Wagner, die Schulsozialarbeiterin, hatte sich dafür an Petra Mittelberg gewandt. Und die Behindertenbeauftragte des Landkreises freut sich über diese Gelegenheit. Denn sie hat sich auf die Fahne geschrieben, die Jugendlichen besser für dieses Thema sensibilisieren zu wollen.

Im Mittagsbetreuungsraum sitzt ein Junge am Tisch. Vor ihm liegt ein Blatt Papier, auf dem er einen Stern ausmalen soll. Klingt einfach. Doch vor ihm steht eine Abtrennung aus Pappe, die ihm die Sicht versperrt. Nur durch einen Spiegel knapp über dieser Wand kann er seine Finger, den Stift darin und das Papier sehen. Immer wieder setzt der Jugendliche den Stift neu an - immer wieder landet die Spitze neben dem Stern. Ein wenig frustriert versucht er es erneut. "Das ist schon ärgerlich, wenn die Hand nicht das macht, was man möchte, oder?", fragt Mittelberg ihn und er nickt nur; weiter hoch konzentriert an der Arbeit.

Grafing: Die Behindertenbeauftragte des Landkreises, Petra Mittelberg, lässt die Jugendlichen im Rollstuhl fahren.

Die Behindertenbeauftragte des Landkreises, Petra Mittelberg, lässt die Jugendlichen im Rollstuhl fahren.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Solche Übungen sollen den Kindern zeigen, was eine Behinderung für den Menschen bedeutet. Mit diesem Wissen könnten sie nun hoffentlich offener mit beeinträchtigten Menschen umgehen, die Berührungsängste ablegen. "Die Kinder von heute sind die Erwachsenden von morgen", sagt Mittelberg. Auf diese Weise könnte der Inklusionsgedanke Schritt für Schritt verbreitet werden.

Praktisch wie auch theoretisch versucht sie, den Schülern das Thema zu vermitteln. "Zuerst ging es darum, welche Behinderungen es gibt und woher sie kommen", fasst Peter die erste Einheit des Tages zusammen. Und dass die meisten Menschen mit Behinderung diese nicht schon von Geburt an haben, sondern irgendwann einen Unfall oder eine Krankheit hatten. Was er sonst noch aus dem Gespräch mitnimmt: "Man soll mit Behinderten kein Mitleid haben, sondern sie ganz normal wie andere Menschen auch behandeln." Über diese Erkenntnis freut sich Workshopleiterin Mittelberg besonders. "Das ist für mich Inklusion."

Am anderen Ende des Betreuungsraums sitzt Sandra und versucht ein Schokoladenei aus der bunten Aluminiumfolie zu pellen. Allerdings trägt sie dabei riesige gelbe Gartenhandschuhe. In einer Hand liegt das Ei; mit den Fingern der anderen schiebt und wischt das Mädchen über dessen Spitze. Ganz vorsichtig, damit das Ei nicht zerbricht. Erst nach einigen Minuten löst sich die Folie endlich ab. "Ich hab's geschafft", freut sich Sandra und fördert einen Schokoklumpen zu Tage.

Auch beim ersten Termin des Workshops waren die Jugendlichen voll dabei. Was die Schüler bis jetzt mitgenommen haben, ist für die Behindertenbeauftragte schon ein Gewinn: "Wenn nur eines dieser Kinder später einmal den Fuß vom Gas nimmt und damit einen Unfall vermeidet, ist das ein Erfolg." Später, draußen vor dem Haupteingang der Schule, setzt sich die Gruppe aus 24 Jugendlichen in Bewegung Richtung Skaterpark. Unter ihnen sind vier Rollstuhlfahrer, die ihre Stühle mit den Armen anschieben: drei Jugendliche und Petra Mittelberg, die selbst wegen der sogenannten Glasknochenkrankheit auf den Rollstuhl angewiesen ist. Die anderen Jugendlichen sind zu Fuß unterwegs. Ein Mädchen geht auf den ersten Blick ganz normal auf dem Gehweg entlang. Doch bei genauem Hinsehen ist zu erkennen, dass es nach wenigen Schritten immer wieder das linke Bein anwinkelt und ihren linken Arm ausschüttelt. Ddie Jugendliche trägt Gewichtsmanschetten an diesen Körperteilen. Sie sollen eine Halbseitenlähmung simulieren. "Das fühlt sich ganz komisch an", sagt sie zu ihrer Freundin.

Grafing: Die Jugendlichen sollen unter anderem ausprobieren, wie es ist, wenn die Hand beim Zeichnen nicht gehorchen will.

Die Jugendlichen sollen unter anderem ausprobieren, wie es ist, wenn die Hand beim Zeichnen nicht gehorchen will.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Weiter vorne springen Vanessa und ihre Begleiterin beim Skaterpark umher. Vanessa ist allerdings etwas vorsichtiger als die Freundin. Denn sie trägt eine Brille aus weißem Papier mit milchigen Gläsern und sieht "fast gar nichts". Das Gestell soll eine starke Seheinschränkung nachvollziehbar machen. "Man muss total aufpassen", sagt Vanessa. "Wenn ich jetzt alleine wäre, hätte ich schon ein bisschen Angst."

Deshalb sind die Schüler während der Außenübung immer als Paar unterwegs. Einer probiert die Einschränkung aus, der andere passt mit auf. Lachend testen einige Mädchen ihre Sehgrenzen an den Halfpipes aus; von der anderen Seite her quietscht ein Junge vor Vergnügen, als er im Rollstuhl mit Schwung auf den Schotterplatz fährt und plötzlich die Reifen zwischen den kleinen Steinen stecken bleiben. "Ich möchte, dass die Kinder die Behinderung mit Freude erleben", erklärt Mittelberg, während sie die Jugendlichen beobachtet. So würden sie verstehen, dass auch Menschen mit Einschränkung Spaß haben können. "Aber es bleibt auch Ernst hängen", ist sich die Workshopleiterin sicher. Das habe sich in der ersten Woche in der Abschlussrunde schon bestätigt. Da sprachen die Schüler über die Einschränkungen, die sie kennengelernt haben und auch darüber, wie es wohl wäre, immer im Rollstuhl zu sitzen, während die Freunde Fußball spielen.

Petra Mittelberg würde solche Workshops gerne zum Standard machen. Damit alle Kinder frühzeitig und spielerisch an das Thema Behinderung herangeführt werden. Ob sie dafür überhaupt genügend Zeit hätte, ist sie sich aber selbst nicht sicher.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: