Grafing:Die Seeräuber

Vor bald 200 Jahren ließen ein Beamte rund ein Steinmetz bei Elkofen ein ganzes Feuchtbiotop verschwinden. Drei Höhlenforschergehen der vergessenen Geschichte im wahrsten Sinne auf den Grund

Von Johannes Hirschlach, Grafing

Es platscht. Wasser spritzt zu allen Seiten, als Winfried Raab in den Bachlauf hüpft. Die Gummistiefel halten den knöcheltiefen Schlick ab, ein Overall schützt den Mann mit der Goldrandbrille vor dem Schlamm. Mit sicherem Tritt stapft er durch den Bach in einem Waldstück bei Oberelkofen. Ein paar Meter bergauf stehen zwei weitere Overallträger: Thomas Zrenner und Berti Miele - dick eingemummelt am besten zu unterscheiden an der Helmfarbe: grau und neongelb. Die drei sind Höhlenkundler, wenn auch nur in ihrer Freizeit. Die Mitglieder des Vereins "Höhlenforschung Südbayern" sind immer wieder auf Entdeckertour. Heute wollen sie ein heimatgeschichtliches Kuriosum erkunden.

Tief im Wald, zwischen Bahndamm, Felsvorsprüngen und einer Schlucht, versteckt sich der Eingang zum Eisendorfer Stollen - so unscheinbar, dass ihn nur geschulte Augen zwischen den Felsspalten erspähen. Der aus dem Stein gehauene Gang ist eines der letzten Überbleibsel, die von einem großen See zeugen. Der füllte einst die Talsenke zwischen Eisendorf und Oberelkofen.

Das Gewässer war bis zu 100 Tagwerk groß

Intensiv zur Fischerei genutzt, so heißt es in einer Chronik eines Landbesitzers von 1776, war das Gewässer bis zu 100 Tagwerk groß. Das entspricht einer Fläche von mehr als 40 Fußballfeldern. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts jemand den Stöpsel zog und den riesigen Weiher wie eine Badewanne abließ. Was blieb, war die Straße "Seeweg" in Eisendorf, nunmehr ohne tatsächlich existierenden Bezugspunkt - und der ominöse Stöpsel mitsamt des Abflusses, der das Gewässer leerte.

Heute kennen den Stollen und dessen Geschichte nur noch die Alteingesessen. Wer sich informieren will, muss staubige Bücher in Archiven wälzen. Ideale Voraussetzungen, um Höhlenforscher wie Raab nahezu magnetisch anzuziehen. An einem lauen Herbsttag sucht er nun mit seinen Vereinskollegen nach dem Relikt. Die sind schon einmal voraus gegangen und bereits außer Sicht. Der 50-Jährige schaltet die Kopflampe an seinem Helm an. Vor ihm liegt ein schmaler Tunnel, aus dem das Wasser des Bachs geschossen kommt. Über dem Tunnel donnert ein Railjet vorbei. Unter der Woche arbeitet Raab als Informatiker in einem Rechenzentrum in München, jetzt durchquert er rasch den Gang, ohrenbetäubendes Wasserrauschen hallt von den Wänden wider.

Am Ende tut sich ein Idyll auf. Herbstlaub hat eine schmale Senke in ein Blättermeer verwandelt. Kleine, moosbedeckte Terrassen aus Kalkstein, der sich wie Luflée-Schokolade ausnimmt, bilden faustgroße Tümpel. Raab hält kurz inne und orientiert sich. Direkt vor ihm, nur einige hundert Meter entfernt und steil bergauf thront eine mächtige Wand aus Nagelfluhgestein. Daran klettern bereits Zrenner und Miele herum. "Ja, das ist ein richtiger Höhlenforscher", murmelt Raab, als er Miele in einen kleinen Spalt im Fels kriechen sieht. Man müsse nur aufpassen, dass kein Fuchs darin sitze, sagt er, grinst, meint das aber nicht als Scherz. Ihm selbst sei das schon einmal passiert. "Da saß das in die Ecke gedrängte Tier plötzlich vor meinem Gesicht."

Höhlenforscher im Wasserkanal Elkofen

Winfried Raab (stehend), Thomas Zrenner (am Stolleneingang) und Berti Miele (im Vorsprung) am Eingang zu dem Wasserstollen in Elkofen(großes Bild)

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Schächte, Bunker, Bergwerke - die Neugier treibt die Forscher an

Über 400 Höhlen hat Raab schon erkundet, sagt er. Dazu unzählige vergessene Schächte, Bunker und Bergwerke. Es sei die Neugier, die ihn unter Tage treibe. "Als Kind war ich mit den Eltern oft Burgen und Schlösser besichtigen", sagt er. "Irgendwo gab es da immer Löcher, wo man nicht weitergegangen ist." Ihn selbst habe dabei jedoch eine Frage erfüllt: "Wo geht's da hin?" Im Moment geht es für Raab vor allem in eine Richtung: unter den Fels. Denn dort gluckert der Bach aus einem ein mal ein Meter großen Schacht hervor - der Eingang zum Eisendorfer Stollen. "Jetzt geht's im Kriechgang", sagt Raab und freut sich. Wo andere Platzangst kriegen, schlägt sein Forscherherz höher. "Hauptsache kalt, nass und dunkel", merkt Zrenner lakonisch an. Schnell verschwinden die Höhlenforscher in dem steinernen Schlund.

Der Bau des Stollens hat eine lange Vorgeschichte. "Dadurch, dass der See keinen natürlichen Zu- und Abfluss hatte, ist die Mückenplage groß gewesen", sagt der Ebersberger Kreisheimatpfleger Markus Krammer. Immer wieder habe es Streit mit den Eisendorfer Besitzern des Sees gegeben. Von Fisch-Diebstählen, missgünstigen Nachbarn, Pfändungen und Prozessen ist in einer Aufzeichnung eines Gutsherren aus dem 18. Jahrhundert die Rede. Der in Elkofen ansässige Verwaltungsbeamte Joseph von Hazzi hatte 1829 von dem Jahrhunderte währenden Gezänk die Nase voll. Er hatte es sich zur Aufgabe erkoren, den See auszutrocknen und die Fläche landwirtschaftlich zu nutzen. Dazu engagierte von Hazzi einen Steinmetz aus Franken. Johann Kretschmayr, "dieser thätige und vom Ehrgeize entflammte Mann", wie ein zeitgenössischer Bericht den Handwerker bezeichnet, machte sich mit einem Gehilfen sogleich an die Arbeit.

Detailliert beschreiben einige Kapitel im "Wochenblatt des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern" aus dem Jahr 1833 die Tätigkeit Kretschmayrs. So gelangte dieser schnell zur Einsicht, den See nur über einen Kanal ablassen zu können - "nämlich mittels Durcharbeiten des großen vorliegenden Berges", wie das Wochenblatt berichtet. Nach ersten Probegrabungen unterzeichneten von Hazzi und Kretschmayr im März 1829 einen Vertrag. Fortan schaufelten sich Steinmetz und Assistent Tag für Tag durch den östlich des Gewässers liegenden Fels.

Im Stollen gibt es teilweise gemauerte Passagen

Kieselsteine prasseln ins Wasser, als Raab mit den Fingern an der Stollenwand entlangfährt. Das fahle Licht seiner Stirnlampe verliert sich schon nach wenigen Metern in der Dunkelheit. "Respekt vor denen, die das einmal gegraben haben", sagt er. "Herrgottzement" nennt Raab den über Jahrtausende zusammengepressten Kiesel, der den mannshohen Stollen von allen Seiten im Eiprofil umschließt. Das Buddeln sei angesichts des bröckelnden Gesteins nicht das komplizierteste gewesen, mutmaßt er.

Stattdessen glaubt der 50-Jährige, dass dem Baumeister etwas anderes die Arbeit erschwerte. Raab stapft wenige Schritte weiter, trübes Wasser umspült seine Stiefel. Dann öffnet sich der Gang nach links und rechts. "Da ist Gestein eingebrochen", stellt Raab fest und deutet auf die kleine Schuttlawine, die zu seinen Füßen endet. Mit so etwas habe auch Kretschmayr gekämpft, sagt der Höhlenkundler. Trümmer seien immer wieder in den Tunnel gerutscht, der Steinmetz habe das unterbinden müssen. So erklärt sich Raab die teilweise gemauerten Passagen im Stollen.

Und plötzlich ist da ein Skelett. Raab hat es tief im Inneren des Tunnels entdeckt. Keines aus echten Knochen, sondern aus Farbe. Unbekannte haben das morbide Bild an die Wand gesprayt. Raab und seine Begleiter sind nicht die einzigen, die dem Eisendorfer Stollen einen Besuch abstatten. Davon zeugen auch sandverkrustete Bierflaschen, Kerzen und zwei modrige Sitzpolster, auf die das Trio in einem Seitengang stößt. Für Geo-Cacher ist eine Box versteckt. Keine spektakulären Funde für die Forscher, die schon anderes vor Augen hatten.

Wer in uralten Höhlen herumkrieche, stoße ab und an auf Bärenzähne und Tierskelette, sagt Raab. "Es gibt sogar frühgeschichtliche Opferschächte, wo Menschen hineingeworfen wurden", erzählt er. Derartige Entdeckungen und eine ausführliche Beschreibung der erkundeten Höhlen wandern am Ende in das Archiv des Vereins. Darüber hinaus vermessen die Freizeitforscher jedes Gewölbe, jede Grotte fein säuberlich. Die so gewonnenen Daten seien auch bei Baubehörden begehrt, sagt Raab. Immer wieder erhalte der Verein Anfragen zu geologischen Besonderheiten.

Winzige Mücken fühlen sich in der Höhle wohl

Den Eisendorfer Stollen hat bereits zuvor ein Kollege erfasst. So müssen sich Raab, Zrenner und Miele heute nicht mit Maßband und Notizblock durch den Gang zwängen, sondern können in Ruhe das muffige Bauwunder begutachten. "Unglaublich warm hier drin", stellt Miele fest. Vielleicht gediehen deshalb die "Viecher" so gut hier drin, scherzt Raab, der Kopf von winzigen Mücken umschwirrt. Im Gänsemarsch geht es weiter durch den Stollen. Raabs Helm schrammt an der niedrigen Decke. Dann richtet er sich auf. Der Tunnel ist zu Ende. Nach rund 250 Metern Finsternis strahlt eine blendend helle Sonne vom Himmel. Die Gruppe steht im Bachbett vor dem zugewucherten Stollenausgang. Von einer benachbarten Weide glotzen drei Rinder zu der Gruppe in Abenteurermontur herüber. "Das ist echt der unscheinbarste Ort für sowas", sagt Miele und lacht.

Dort, wo die Männer Brennnesselgestrüpp platt treten, erreichte auch der Steinhauer Kretschmayr nach vier Monaten Plackerei sein Ziel, den Seegrund. Am 16. Juli 1829 fanden sich zahlreiche Schaulustige am Ufer des Eisendorfer Sees ein. Die Vormauer, die den Kanal zum Gewässer hin schützte, wurde eingerissen. "Mit einem fürchterlichen Ungestüm strömte das Seewasser durch", frohlockte das Wochenblatt. Der Eisendorfer Stollen erfüllte seinen Zweck. Nach drei Tagen lag die Fläche trocken. Das zerstörte Ökosystem erfreute vor allem die umliegenden Bauern, denen auf dem fruchtbaren Boden das "herrlichste Futter" gedieh. Der Stollen dient seitdem als Abfluss für einen Bach und Regenwasser, das sich in der Senke sammelt. "Zugleich ist die Vorsorge getroffen, dass man diesen ganzen Seegrund, nunmehr Wiese, nach Gefallen wieder wässern kann", heißt es in dem 183 Jahre alten Wochenblatt. Sollte der Stollen demnach verschlossen werden, wäre er bald wieder da: der verschwundene Eisendorfer See.

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