Graffiti-Künstler:Über den Dingen

Rafael Gerlach verbrachte seine Jugend in Kirchseeon, mittlerweile zählt der 39-Jährige zur oberen Liga der internationalen Graffiti-Szene - Künstler-Allüren inklusive. Für ein Schulprojekt ist er jetzt zu seinen Wurzeln zurückgekehrt

Von Korbinian Eisenberger

Es gibt wahrscheinlich wenige Menschen, die mehr Farbdosen an Hauswänden versprüht haben als Rafael Gerlach. Aber wenn er, der Grafiker, Illustrator und Designer, dann wieder von irgendeinem Dilettanten als Graffiti-Sprayer bezeichnet wird, dann kann ihm schon mal die Hutschnur reißen.

Mit bayerischen Redensarten kennt Gerlach sich aus, der 39-Jährige ist im Landkreis Ebersberg aufgewachsen, seine Eltern wohnen in einem Haus in Eglharting. Als Jugendlicher verbrachte Gerlach Hunderte Stunden auf dem Gelände des ehemaligen Kirchseeoner Schwellenwerks, dort sprühte er erste Wortgebilde an das alte Gemäuer. 20 Jahre später und 500 Meter weiter ist jetzt sein neuestes Kunstwerk entstanden: In Absprache mit Schülern des Kirchseeoner Gymnasiums hat Gerlach eine hundert Quadratmeter große Aula-Wand besprüht. Das Werk ist fertig, am Dienstag, 8. November, um 19 Uhr, soll es enthüllt werden.

Für dieses Treffen hat der Künstler nicht Kirchseeon, sondern ein Café nahe seiner Wohnung am Münchner Ostbahnhof gewählt. Gerlach, sauber getrimmter Bart, Kurzhaarschnitt, hat einen Tisch im Eck ausgesucht, grüner Tee, weiche Sitze. Die Radiomusik aus dem Lautsprecher, "die irritiert mich", sagt er. Vor einer Woche saß er hier mit einer Gruppe Kirchseeoner Gymnasiasten, die mit ihm zusammen dieses Projekt besprachen, "da war das Gedudel nicht so dominant".

Rafael Gerlach

Graffiti-Künstler "SatOne" alias Rafael Gerlach hat gerade eine hundert Quadratmeter große Wand am Gymnasium Kirchseeon bemalt.

(Foto: oh)

Gerlach spricht sachte, er ist einer, der sich genau überlegt was er sagt, und doch findet er, dass Worte nicht reichen, um auszudrücken, was er meint. "Wenn ich eine Frucht verfremde, soll der Betrachter sie dennoch riechen können", sagt er. Gerlach macht kein Geheimnis daraus, dass er fast ausschließlich auf seine Kunst fixiert ist. Er hat in den vergangenen 15 Jahren Kunstwerke in der ganzen Welt gesprayt, in der Szene ist der gebürtige Venezolaner, der als Zweijähriger mit seiner Familie nach Deutschland kam, seit vielen Jahren eine bekannte Größe.

Über die Jahre habe er sich von Alltagsformen immer mehr wegbewegt, "mittlerweile arbeite ich fast nur noch abstrakt", sagt er. Seine neueren Werke bestehen aus fantasievollen organischen Formen, Geometrie in beunruhigender Farbenpracht, teilweise futuristisch anmutende Muster. Mit dem Graffiti der Achtziger Jahre hat das wenig zu tun - SatOne will zur Selbstreflektion anregen. "Der Betrachter soll sich aus seinen Erfahrungen eine eigene Geschichte formen", sagt er. Während einer Tour durch Indien hat er seinen Stil an Häuserfassaden verfeinert, mit "Oasis", einem farbigen Konstrukt inmitten einer Blaufläche, hat er im sterilen Washingtoner Stadtteil Arlington die graue Einöde förmlich aufgebrochen, das war erst kürzlich. Gerlach wird ein unverwechselbarer Stil nachgesagt - wer ihn unter dem Künstlernamen "SatOne" bucht, ist bereit, für eine Woche Arbeit einen fünfstelligen Betrag zu zahlen.

Gerlach Graffiti an neuem Hexendomizil

Perchtenmaske für Kirchseeon: Am ehemaligen Holzland-Kern-Gelände gestaltete Rafael Gerlach ein Tor.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Erst vor wenigen Tagen ist er aus Mailand gekommen, wo er drei Tage lang eine Häuserfassade umgestaltet hat, ein normaler Auftrag, nichts besonderes. In Kirchseeon arbeitet Gerlach jetzt ehrenamtlich, Lehrerin Julia Reisinger musste mit ihren Schülern lediglich die Summe für das Material aufbringen, also vor allem Dutzende Dosen. Die Wand in der Aula ist knapp zehn Meter hoch und genau so breit. Damit die Farbe für diese Fläche reichte, spendeten unter anderem der Landkreis Ebersberg und die Gemeinde Kirchseeon Geld. Was dabei herauskommt, daraus macht Gerlach ein Geheimnis.

Bekannt ist: Bei seinen Bildern lässt Gerlach sich nicht dreinreden, der Künstler will seine Freiheiten. "Individualismus kommt in unserer Gesellschaft zu kurz", sagt Gerlach Gerlach ist keiner der sich gerne anpasst. Der Fotograf der SZ, so wünschte es Gerlach, solle ihn bei der Arbeit in Kirchseeon bitte nicht fotografieren, als Künstler halte er das Motiv für ungeeignet. Lieber ein Foto eines vollendeten Werks, etwa von der Fassade eines Hangars im französischen Rouen.

Gerlach ist Profi - in solchen Momenten wirkt er aber auch wie ein Entrückter, dann würde man ihm kaum zutrauen, dass er jetzt in seiner Heimat gratis sprayt. Oder Sätze wie diesen sagt: "Mich verbindet viel mit dieser Zeit und ihren Orten, deshalb komme ich gerne zurück." Auch deshalb habe er für die Kirchseeoner "Perschtenstiftung" Masken gesprüht, der Bahnunterführung einen neuen Anstrich verpasst und zusammen mit Gymnasiasten ein Gemeinschaftsprojekt entwickelt. "Ich habe die Bewegung der Wendeltreppe neben der Wand im Bild weitergeführt", sagt Gerlach. Mehr verrät er nicht, nur das noch: Auf Wunsch der Schüler habe er die grüne Farbe des Kirchseeoner Gymnasiums in das Bildnis aufgenommen.

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