70 Jahre Kriegsende im Landkreis:Als der Krieg heimkam

Dezember 1944: Die Amerikaner wollen ein Gebäude der Reichspost in Jakobneuharting bombardieren. Sie verfehlen ihr Ziel, fünf Menschen sterben. Zeitzeuge Franz Ludl hat die Bilder der Leichen noch heute vor Augen

Von Anselm Schindler, Frauenneuharting

Mit angestrengter Miene lässt Franz Ludl seinen Blick am Rand des Waldweges entlanggleiten. Der Wald ist hier, rund einen Kilometer östlich von Jakobneuharting, einem Ortsteil der Gemeinde Frauenneuharting, noch wilder als in anderen Teilen des Landkreises: Der Waldboden ist zugewuchert und moorig, früher wurde hier Torf gestochen. Franz Ludl hebt seine faltigen Hände und deutet auf eine Stelle am Waldboden. Der moosige Grund ist dort um einen halben Meter abgesenkt. "Viel sieht man nicht mehr", sagt Ludl. Doch wer mit aufmerksamen Blick auf den Wegen der Rieder Filze bei Jakobneuharting entlangschlendert, kann sich vorstellen, wie es wohl gewesen sein muss, als hier die Bomben fielen.

70 Jahre Kriegsende im Landkreis: Das Bild zeigt die Reste der Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost. Die Amerikaner wollten das Gebäude bombardieren.

Das Bild zeigt die Reste der Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost. Die Amerikaner wollten das Gebäude bombardieren.

(Foto: Christian Endt)

Es ist der 29. Dezember 1944. Gegen Mittag ertönt das Brummen einer US-amerikanischen Bomberstaffel. Das Brummen ist man in der Gegend schon gewohnt, doch dieses Mal werden die Bomber nicht nach München weiterfliegen. Über der Rieder Filze lassen die Flugzeuge ihre Fracht fallen. Wenig später ohrenbetäubendes Knallen. 60 fünfhundert Kilogramm schwere Bomben detonieren. Sie lassen Bäume umknicken und fegen Holzverschläge hinfort. Fünf Menschen sterben. Doch ihr eigentliches Ziel, eine Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost, treffen die Bomben nicht. "Da sind bei uns die Fensterscheiben rausgeflogen", berichtet Franz Ludl. Acht Jahre war er damals alt, die Erinnerungen sind getrübt. Doch die Bilder von den Leichen der Toten haben sich eingebrannt. Am Rand der Filzen wurden sie behelfsmäßig in einem Stadl aufgebahrt, "meine Mutter hat dem Pfarrer bei der Salbung assistiert", berichtet Franz Ludl.

70 Jahre Kriegsende im Landkreis: 1944 wollen die Amerikaner die Reichspost in Jakobneuharting bombardieren. Fünf Menschen sterben. Sie werden in Freuenneuharting begraben.

1944 wollen die Amerikaner die Reichspost in Jakobneuharting bombardieren. Fünf Menschen sterben. Sie werden in Freuenneuharting begraben.

(Foto: Christian Endt)

Festgehalten sind diese Ereignisse im einem Tagebuch seines verstorbenen Onkels Joseph Ludl. Die Aufzeichnungen beginnen im Januar 1919. In filigraner, fein säuberlicher Schrift füllen Notizen die vergilbten Seiten. Mal ausführlicher, mal stichpunktartig zu Papier gebracht, sind diese Notizen nicht zuletzt eine Chronologie des lokalen Geschehens in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Franz Ludl ist Teil dieses Geschehens, auch wenn er noch ein Kind war, als der Krieg endete. Lebhaft erinnern kann er sich an den 7. Januar 1945, als München eine der heftigsten Bombardierungen der Stadtgeschichte erlebte. "Da war ich mit meinem Vater vor dem Haus Rüben zerkleinern. Dann kam der Windstoß der Bomber, und die Enten sind alle erschrocken davongeflattert." Und auch im Tagebuch seines Onkels tauchen die Ereignisse auf. "7. Januar: Großangriff auf München. Bei uns zittern die Türen und Fenster wie noch nie."

70 Jahre Kriegsende im Landkreis: Heute erinnert eine Gedenktafel an das Schicksal der Familie Dirrigl.

Heute erinnert eine Gedenktafel an das Schicksal der Familie Dirrigl.

(Foto: Christian Endt)

Größte Teile Europas sind im Frühjahr 1945 bereits vom Terror des Nazi-Regimes und seiner Verbündeten befreit, die Front rückt auch in Jakobneuharting immer näher. Doch für viele Menschen im Landkreis ist das mehr Grund zur Hoffnung als zur Sorge. Er könne sich nicht daran erinnern, Angst vor den US-amerikanischen Soldaten gehabt zu haben, erklärt Ludl: "Wir waren alle froh, dass es endlich vorbei war." Am 2. Mai weht auch auf dem Hof der Ludls die weiße Fahne der Kapitulation. Mit den US-Soldaten, die im Mai des letzten Kriegsjahres auch im Landkreis untergebracht wurden, haben sich die Ludls schnell arrangiert. Die Kinder seien ohnehin mehr neugierig als skeptisch gewesen, erinnert sich Franz Ludl. Die Schokolade, die die Soldaten mitbrachten, tat ihr Übriges. Auch im Hof seiner Familie wurden sieben US-Soldaten einquartiert. "Die haben auch in unseren Betten geschlafen", denkt Ludl an die Zeit zurück. "Wir saßen bis Mitternacht hier." Es wurde zusammen gegessen und getrunken. Und nicht zuletzt war es wohl der Schnaps, den die Soldaten mitgebracht hatten, der dabei half, erste Berührungsängste zu überwinden.

70 Jahre Kriegsende im Landkreis: Die Familie wurde auf dem Friedhof in Frauenneuharting begraben

Die Familie wurde auf dem Friedhof in Frauenneuharting begraben

(Foto: Stadtarchiv Grafing)

Englisch sprach auf dem Dorf damals freilich fast niemand. Doch mit Hilfe zweier Ingenieure aus München habe man sich verständigen können. Denn die Ingenieure, sie waren in der Zeit ebenfalls bei den Ludls untergekommen, konnten übersetzen. Von den beiden Ingenieuren führt die Spur entlang der Bundesstraße EBE 9 zu einem Feld, das sich, mittig zwischen Jakobneuharting und Ettenbach gelegen, am Straßenrand erstreckt. Nur noch einige Betonklötze erinnern an die Anlage, die hier in den letzten Kriegsjahren erbaut wurde. Dort arbeiteten auch die beiden Ingenieure. "Irgendetwas mit Spionage" ist von Ludl zu hören, wenn man ihn nach der Forschungsanstalt fragt. Die Informationen werden an dieser Stelle spärlich und vage, im Dorf habe man nichts von den Zwecken der Anlage gewusst, heißt es, wenn man sich in Jakobneuharting umhört. Doch so viel ist sicher: Sie gehörte zur Reichspost und diente der deutschen Kriegsführung auch für Spionage-Aktionen. Einer der beiden Plätze, auf denen die Antennenmasten standen, kann man aus einigen Metern Entfernung nur erahnen, er ist dicht von Bäumen umstellt - gerade so, als wolle man ihn heute noch verstecken.

70 Jahre Kriegsende im Landkreis: Den Tod nutzten die Nazis für Propaganda: Über den Namen prangten militaristische Symbolik und das Hakenkreuz.

Den Tod nutzten die Nazis für Propaganda: Über den Namen prangten militaristische Symbolik und das Hakenkreuz.

(Foto: Stadtarchiv Grafing)

Das Reichspost-Gebäude sollte auch einigen Menschen aus Jakobneuharting zum Verhängnis werden. Denn das Ziel der Bomben, die am 29. Dezember des vorletzten Kriegsjahres fielen, waren die Antennen der Spionage-Anlage. Die Bomben verfehlten ihr Ziel. Sie trafen auch den Hof der Familie Dirrigl nahe der Rieder Filze. In den Trümmern konnten nur noch die verstümmelten Leichen von vier Kindern und ihrer Mutter geborgen werden. Am 2. Januar 1945 wurden die Bombentoten am Frauenneuhartinger Friedhof begraben. Das Begräbnis mutierte, so wollte es die NSDAP, zur Propaganda-Veranstaltung. Zwischen Leichenschauhaus und dem alten Kirchengemäuer erinnert auch heute noch eine Informationstafel an Familie Dirrigl. Dort ist auch das Sterbebild von damals abgebildet. Über den Namen der Bombentoten prangt militaristische Symbolik, auch das Hakenkreuz ist darunter.

Familie Ludl überstand die Kriegszeit, ohne gefallene Familienmitglieder beklagen zu müssen. Der Vater war bereits zu alt für den Kriegsdienst, er hatte schon im Ersten Weltkrieg gekämpft. Seine Söhne waren um einige Jahre zu jung und so kam es, dass von den Ludls niemand an die Front musste. Doch letztlich dominierte das Kriegsgeschehen auch weitab der Front den Alltag. Aus dem Tagebuch seines Onkels kramt Franz Ludl eine Ablieferschein der Ebersberger Kommunalverwaltung hervor. "60 Eier" steht darauf, die Landwirte mussten Teile ihrer Erträge an die Kommunen abgeben, so verlangte es die Kriegswirtschaft. Und je weiter der Krieg voranschritt, desto spürbarer wurden auch auf dem Land die Konsequenzen des deutschen Vernichtungswahns. Im Frühjahr 1944, als auch die Luftangriffe auf München zunahmen, begann dann auch der Vater von Franz Ludl, einen Bunker auszuheben. Von dem Bunker sind nur noch Vertiefungen in der Erde sichtbar, acht Meter reichte er in einen Hang nahe des Familienhofes hinein.

Auch neben der Frauenneuhartinger Volksschule gab es einen Bunker. Ludl kann sich gut an die Sirene erinnern, die vor den Bombardierungen warnten. Am 9. April des letzten Kriegsjahres wurden in der Schule dann 60 Flüchtlinge aus Schlesien einquartiert. Die Flüchtlinge bekamen in der Schule auch eine warme Mahlzeit, "verhungert ist keiner", so Franz Ludl, der sich noch lebhaft an die gute Würstelsuppe der Schulspeisung erinnert. "Es gab bei uns keine große Armut", erinnert sich Franz Ludl mit Blick auf die ansässige Landbevölkerung. Denn die Landwirtschaft lief trotz aller Kriegswirren weiter. Doch von außerhalb, auch aus München, seien viele Menschen gekommen, die um "einen Löffel Schmalz oder Fallobst" gebeten hätten.

"Auch hier wurden einige Flüchtlinge einquartiert", sagt Ludl und blickt sich in der Stuben des Beihauses um: "Hier haben die gewohnt." Wie viele Flüchtlinge es waren, daran kann er sich nicht erinnern, "aber wir haben uns gut verstanden". Wenn man in der Stuben der Ludls sitzt, dann fällt es ungleich leichter, sich in die Jahre um 1945 hineinzuversetzen. Denn allzu viel hat sich in den vergangenen sieben Jahrzehnten nicht geändert in den rustikal hergerichteten Räumen. Und vor dem inneren Auge tauchen die amerikanischen Soldaten auf, wie sie auf der Eckbank Schnaps trinken. Oder die Flüchtlinge, die auf Matten am Boden schlafen. "Lassen wir es ruhen", sagt Franz Ludl und klappt das Tagebuch seines Onkels zu. Doch Geschichte ruht nicht, die Kriegsjahre sind in der Gemeinde Frauenneuharting trotz der vergangenen 70 Jahre präsent. Auf den Friedhöfen, in den Köpfen der Zeitzeugen und in ihren Erzählungen.

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