Erinnerungen, die nie verblassen:Am Rande des Sturms

Der Kreisheimatpfleger Markus Krammer erzählt Altersgenossen im katholischen Pfarrheim davon, wie er den zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit im ländlichen Ebersberg erlebt hat

Von Anselm Schindler, Ebersberg

Als Ebersbergs Kreisheimatpfleger Markus Krammer geboren wird, stehen die Zeichen bereits auf Krieg. Wir schreiben das Jahr 1937 und das nationalsozialistische Deutschland rüstet seit Jahren auf. Rhetorisch hat es den Krieg schon begonnen. Es wird nicht mehr lange ruhig bleiben in Europa. Markus Krammer kann davon freilich noch nichts wissen, zwei Jahre alt ist er, als Wehrmachtssoldaten Polen überfallen. Doch die Konsequenzen bekommt er zu spüren: Sein Vater wird an die Ostfront dirigiert. Als der Krieg endet, ist Krammer acht, seine Erinnerungen sind trotzdem lebendig.

Sieben Jahrzehnte ist die Befreiung durch die Alliierten jetzt her und in Ebersberg gibt es nicht mehr allzu viele Menschen, die davon aus erster Hand berichten können. In dieser Woche trafen sich einige von ihnen im katholischen Pfarrheim, um sich gemeinsam mit Heimatpfleger Krammer an die letzten Kriegsjahre und die Nachkriegszeit zu erinnern. Es ist ein fröhliches Stück, das Krammer da auf der Zither spielt, es will nicht so recht passen, zu dem, was er anschließend erzählen wird. Doch ausgesucht hat es Krammer bewusst, es erinnert ihn an die Monate nach Kriegsende, als er das Zither spielen lernte.

Wie so viele andere Familien auch werden die Krammers vom Krieg auseinandergerissen. Der Vater wird 1943 gen Osten geschickt, der Frontverlauf wird ihn bis nach Leningrad führen. Vor dem Markus Krammer auf dem Tisch liegen zwei, durch Kunststofffolien geschützte, vergilbte Blätter. Es sind Briefe, die er seinem Vater an die Front schrieb. Die Buchstaben sind noch etwas krakelig, "es waren meine ersten Schreibversuche" sagt er und lacht. Geschrieben hat er sie im Oktober 1944. Die betagten Zuhörer sind sichtlich gerührt, als Krammer daraus vorliest. "Das Christkind wird auch für dich was haben", steht in einem der Briefe. Es ist die Hoffnung eines Schulbuben seinen Vater an Weihnachten bei sich zu haben. Die Krammers sollten Glück haben - anders als die 227 gefallenen und 37 vermissten Ebersberger Soldaten. Noch vor Kriegsende kehrt der verwundete Vater zurück. Im Gepäck hat er die beiden Briefe, die sein Sohn so sorgfältig aufbewahrt.

Eisenbahnunglück bei Aßling 1945Das 1948 errichtete Denkmal auf dem Soldatenfriedhof Oberelkofen in einer damals angefertigten Fotografie. (Foto: Stadtarchiv Grafing)

Als dieses Bild aufgenommen wurde, 1948 auf der Kriegsgräberstätte in Oberelkofen, waren die Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, noch ganz frisch.

(Foto: Stadtarchiv Grafing)

Ebersberg wird von den Bombardierungen der letzten Kriegsjahre weitgehend verschont. Doch zu spüren bekommt die Bevölkerung der Stadt die Konsequenzen des deutschen Größenwahns sehr wohl. Krammer erinnert sich gut. "Abends mussten wir verdunkeln." Mithilfe der "Verdunkelung" sollte feindlichen Flugzeugen die Orientierung erschwert werden. Konkret hieß das: Licht dämpfen, Vorhänge zu. "Wenn in München bombardiert wurde, haben bei uns manchmal die Fenster gewackelt", erzählt Krammer. "Man sah den Feuerschein am Himmel."

Auch die etwa 100 Kriegsgefangenen aus Polen, Russland und der Ukraine, die in Ebersberg untergebracht sind, machen das Geschehen an den Fronten greifbar für die Menschen hier. Krammer berichtet von einem 17-jährigen Gefangenen aus der Ukraine, der im Oktober 1944 in der Ebersberger Kiesgrube erhängt wird. "Die anderen Kriegsgefangenen aus Polen und Russland mussten bei der Hinrichtung zuschauen." Man sieht einigen Senioren im Publikum an, dass ihnen bei diesen Worten ein kalter Schauer über den Rücken fährt. Der 17-Jährige aus der Ukraine ist nicht der einzige, dessen Leben in den letzten Kriegsjahren Jahren in Ebersberg eine gewaltsames Ende findet. Einige Monate nach der Befreiung werden im Forst fünf Leichen entdeckt. Sie sind notdürftig mit Stacheldraht zusammengebunden, liegen unter Reisig in einer Mulde. "Es werden wohl KZ-Häftlinge aus Dachau gewesen sein", vermutet Heimatpfleger Krammer.

Im Frühjahr 1945 kann die Propaganda kaum noch darüber hinwegtäuschen, dass die Wehrmacht nahezu geschlagen ist. Auch in der bayerischen Bevölkerung gibt es Menschen, die auf eine schnelle Kapitulation hinarbeiten. "Hochverräter" werden diese Menschen in der vorerst letzten erschienenen Ausgabe des Ebersberger Anzeigers genannt, viele werden hingerichtet. Krammer hat die Ausgabe mit ins Pfarrheim gebracht. Es ist fast schon eine Antiquität wie er sagt. Der Ebersberger Anzeiger wird erst nach Kriegsende wieder erscheinen.

Erinnerungen, die nie verblassen: "Ich war halt noch a Bua". Wenn sich Markus Krammer an die letzten Kriegsjahre erinnert, sieht er die Zeit wieder aus den Augen des Kindes das er war.

"Ich war halt noch a Bua". Wenn sich Markus Krammer an die letzten Kriegsjahre erinnert, sieht er die Zeit wieder aus den Augen des Kindes das er war.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Im Mai 1945 rücken die US-Truppen auch auf Ebersberg vor. Teils durch den Forst, teils über Kirchseeon. Doch in Ebersberg gibt es nichts mehr zu besiegen, die Bevölkerung hat längst kapituliert. Der Imker Joseph Wutzer wird den Streitkräften entgegengeschickt um die Lage zu beruhigen. Er trägt eine weiße Fahne bei sich. Und so kommt es, dass Imker Wutzer, die weiße Fahne in der Hand, auf der Kühlerhaube eines Militärfahrzeuges zurück in den Ort gefahren wird. Im Schlepptau die Panzer der US-Streitkräfte. Und während viele der Älteren Angst vor den US-Truppen haben, erlebt der junge Krammer das Geschehen mehr als Abenteuer. "Ich war halt noch ein Bua", erklärt er. In Erinnerung geblieben sind ihm trotzdem Ereignisse, die ihm Angst gemacht haben. Als er an einem Sommertag 1944 mit Freunden auf den Feldern spielt, wird über ihren Köpfen ein Bomber abgeschossen. "Da sind wir aber gerannt!" Krammers Stimme klingt immer noch aufgeregt, wenn er sich daran erinnert. Die Kinder versteckten sich unter einem Baum, "das hätte natürlich nicht viel gebracht", sagt er und schmunzelt. Doch der abstürzende Flieger sollte die Kinder verschonen, er krachte ins nahe Moos.

In Erinnerung geblieben ist dem Heimatpfleger auch die Zeit nach dem Krieg, die er ebenfalls mehr als aufregend denn als grausam erlebt. Doch natürlich sei es nicht leicht gewesen. Die Krammers leben, wie auch die meisten anderen Familien, nach dem Krieg in ärmlichen Verhältnissen. Markus Krammer ist mit seiner Familie im Malteserweg in Nord-Osten Ebersbergs untergekommen, im "Scherbenviertel" wie er den Stadtteil im Rückblick. "Im Untergeschoss unseres Zuhauses lebten zwei Familien auf engstem Raum." Zehn Menschen und nur eine Toilette. "Das war bei uns genauso" ruft eine Zeitzeugin dazwischen, in der Runde zustimmendes Kopfnicken.

Als nach dem Krieg die Flüchtlinge aus dem Sudentenland kommen, wird es noch enger. Flüchtlingskommissare gehen von Haus zu Haus um zu entscheiden, welche Familie wie viele der aus den Ostgebieten Geflohene aufnehmen muss. In dem Haus, in dem die Krammers lebten, wird eine schlesische Familie einquartiert. "Das war kein Problem, wir haben immer mit den Flüchtlingskindern gespielt."

Die Kommissare kommen auch zur Familie von Edeltraud Daller. Die Familie ist erst kurz nach dem Krieg aus dem zerstörten München nach Ebersberg gezogen. Als der Vater aus italienischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, renoviert die Familie ein Haus in der Bahnhofsstraße. Ein Zimmer des Hauses wird dann zur Einquartierung von Flüchtlingen beschlagnahmt. "Das war schon ganz schön knapp", erinnert sich Edeltraud Daller. Sie meint die Lebensverhältnisse, sie meint auch die Nahrungsmittelversorgung. Viele Kinder aus Ebersberg seien damals "hamstern" gegangen, erzählt sie, hätten mit etwas Glück Eier und Kartoffeln bei den Bauernfamilien geschenkt bekommen.

Auch Markus Krammer kann sich gut an das "Hamstern" erinnern. Mit allen Mitteln habe man damals versucht, an Essen heranzukommen, erzählt er. Zum Einsatz sei dabei auch ein Fahrrad gekommen, eine ganz eigenwillige Technik hatten sich die Kinder ausgedacht, wie Krammer beschrieb: Die Kinder sammelten Ährenbüschel für die Herstellung von Brot. Um das Korn zu dreschen, steckten sie die Büschel zwischen die Speichen eines sich drehenden Fahrradreifens, so dass die Körner heraus geklopft wurden. Und dann schiebt er noch etwas nach, das ihm offenbar wichtig ist: "Care-Pakete haben wir keine bekommen".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: