Ebersberg:Zu hohe Hürden

Methadon

Mit Medikamenten wie Methadon können Suchtkranke ihre Entzugserscheinungen bekämpfen, doch die Vergabe ist kompliziert.

(Foto: Daniel Karmann / dpa)

Vielen Drogenabhängigen hilft die Vergabe von Arzneien wie Methadon, um in ein stabiles Leben zurückzufinden. Dennoch bieten nur wenige Ärzte die Behandlung an - aus einfachem Grund.

Von Johanna Feckl, Ebersberg

Als Teenager fasste Eva Schalmen, die eigentlich anders heißt, einen Entschluss: Sie rauchte einen Joint. Das wurde zur Gewohnheit. Irgendwann kam Heroin dazu. Regelmäßig. Sporadisch nahm sie auch Kokain. Ein stabiler Alltag war Schalmen fremd. Mit Mitte 20 durchlebte sie ihren ersten kalten Entzug. Es blieb nicht der einzige. Immer wieder fiel sie nach kurzer Zeit in die Abwärtsspirale der Abhängigkeit zurück; über einen längeren Zeitraum abstinent zu bleiben, schaffte sie nicht.

Heute ist die 50-Jährige verheiratet, Mutter und geht einer geregelten Arbeit nach. "Ich backe sogar Torten", erzählt sie. Das Strahlen ihrer Augen verrät, wie stolz sie auf ihr jetziges Leben ist. Ein Leben, das sie sich nur mit Hilfe einer Drogenersatztherapie aufbauen konnte. Substitution nennt man das im Fachjargon. Doch nur wenige Menschen haben diese Möglichkeit. Das Problem: Kaum Ärzte bieten eine solche Behandlungsmethode an.

Der Mangel an Therapieplätzen ist prekär, denn seit 2012 meldet das Bundeskriminalamt bundesweit immer mehr Rauschgifttote. Im Jahr 2015 waren es in Bayern 314 Menschen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg um 25 Prozent. Auch die registrierten Rauschgiftdelikte stiegen bayernweit um 2000 Fälle auf insgesamt 40 788 an. Und das sind nur die polizeilich dokumentierten Zahlen; die Dunkelziffer zeigt vermutlich einen ähnlichen Aufwärtstrend.

Trotz steigenden Zahlen haben Drogenabhängige im Landkreis gerade einmal vier Anlaufstellen für eine Substitutionstherapie. Das sagt Lena Müller-Lorenz von der Grafinger Caritas. Bei insgesamt etwa 150 niedergelassenen Ärzten sind das weniger als drei Prozent. Als eine von drei Mitarbeitern ist Müller-Lorenz für die psychosoziale Begleitung der 70 Substitutionspatienten im Landkreis zuständig.

"Jeden Tag sehe ich, wie sehr eine Drogenersatztherapie hilft"

Um überhaupt an einem Drogenersatzprogramm teilnehmen zu dürfen, muss ein Arzt den Betroffenen eine langjährige oder chronische Opioidabhängigkeit diagnostizieren. Ein unregelmäßiger oder seltener Konsum illegaler Rauschmittel reiche da nicht aus, erklärt Müller-Lorenz. Die meisten Patienten seien zwischen 30 und 55 Jahre alt und ungefähr ein Drittel davon Frauen.

"Jeden Tag sehe ich, wie sehr eine Drogenersatztherapie den Betroffenen hilft", sagt Müller-Lorenz. Trotzdem gibt es nur sehr wenige Ärzte, die substituieren. Wie Felix Großmann, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Seit 20 Jahren betreut er Substitutionspatienten. Und jeden Tag denkt er darüber nach, damit aufzuhören. "Es ist einfach ein Knochenjob!"

Da ist zunächst als formalen Voraussetzung eine suchtmedizinische Zusatzausbildung. In Bayern umfasst das 50 Fortbildungsstunden. Besitzt der Mediziner diese Qualifizierung nicht, muss ihn ein Kollege mit ebensolcher beaufsichtigen. Trotzdem darf er dann nicht mehr als drei Substitutionspatienten betreuen. Müller-Lorenz kennt zwei Ärzte im Landkreis, die mit dieser Beschränkung Betroffene behandeln. Von den vier substituierenden Ärzten mit Zusatzqualifikation stehen zwei kurz vor dem Ruhestand, während die anderen beiden keine Kapazitäten mehr haben, um neue Patienten aufzunehmen.

Hat der Betroffene einen der wenigen Therapieplätze gefunden, muss er die ersten sechs Monate täglich in der Praxis erscheinen, um die Ersatzmitteldosis vor den Augen des Arztes einzunehmen. Damit Großmanns Substitutionspatienten diese gesetzliche Vorgabe mit einer Berufstätigkeit vereinbaren können, gibt er die ersten Rezepte bereits um sieben Uhr morgens, die letzten am späten Abend aus, und oft auch an Samstagen.

Der Absturz als Konsequenz

Das hält er für notwendig. Man stelle sich vor, dass ein Mitarbeiter täglich für ein, zwei Stunden den Arbeitsplatz verlässt, um zu üblichen Sprechzeiten die Substitutionsarznei einzunehmen. Großmann ist sich sicher, dass dies für einige seiner Patienten eine Kündigung zur Folge hätte. Eine fatale Konsequenz: "Die Patienten stürzen ab, wenn sie aus ihrem stabilen Paket herausgeholt werden, für das eine geregelte Arbeit enorm wichtig ist. Das habe ich schon mehrfach erlebt!" Abstürzen heißt: Der Rückfall in den Drogenkonsum, das Herausreißen aus einem beständigen Alltag.

Aus diesem Grund sieht Großmann auch die gesetzliche Regelung kritisch, die bei einem Beikonsum von illegalen Drogen während des Behandlungszeitraums eine Therapiesperre von drei Monaten vorsieht. "Klar muss ein Gesetz den Rahmen der Therapie regeln. Aber es sind immer noch Menschen, die da vor einem sitzen!" Zudem ist Großmann verpflichtet, jede Therapie ausführlich zu dokumentieren; zum einen für die kassenärztliche Abrechnung und zum anderen für das Gesundheitsamt, das jede Therapie überprüft.

Es ist ein kompliziertes System, für das Großmann viele zusätzliche Arbeitsstunden aufbringen muss. "Wenn man Substitutionspatienten obendrein zum normalen Praxisgeschäft hat, dann ist das eine enorme Belastung. Ständig hat man Angst, dass sich nur der kleinste Fehler in der Dokumentation einschleicht", sagt Großmann. Im schlimmsten Fall könne das den Verlust der Kassenzulassung bedeuten. Dies liege vor allem daran, dass die ärztlichen Substitutionsrichtlinien nicht immer mit den Gesetzestexten übereinstimmen.

"Das ist oft hanebüchen, was im aktuellen Gesetz steht!", sagt die erste Vizepräsidentin der Bayerischen Landesärztekammer, Heidemarie Lux. Da sind beispielsweise die von Felix Großmann beschriebenen Regelungen im Falle eines Beikonsums. Laut Lux würde sogar das Verabreichen bestimmter Medikamente zur HIV-Behandlung unter die Kriterien des Beigebrauchs fallen. Oder die Vorgaben bei Urlaubsreisen des Patienten: Bei einem nachgewiesenen Reiseziel im Ausland dürfe sich der Betroffene ein Rezept für 30 Tage abholen, sagt Lux. Ist das Ziel aber innerhalb von Deutschland, sei dies nicht möglich. "Der Patient muss sich dann einen substituierenden Arzt vor Ort suchen und dort jeden Tag seine Ersatzmitteldosis einnehmen."

Nach 20 Jahren Heroin kommt man selten komplett weg von der Droge

Trotz all der Schwierigkeiten hat es Felix Großmann nie ernsthaft bereut, zu substituieren. "Man kann dadurch so viel Positives bewirken, das ist es Wert!" Viele Abhängige schaffen es, sich mit Hilfe einer Substitutionstherapie ein stabiles Leben mit Beruf, Freunden und oft auch einer eigenen Familie aufzubauen - so wie es bei Eva Schalmen der Fall ist.

"Das oberste Ziel einer Therapie sollte nicht Abstinenz, sondern das Funktionieren im Alltag sein", sagt Großmann. "Es ist einfach nicht realistisch: Jemand, der zehn, 20 oder 30 Jahre heroinabhängig ist, kommt in den seltensten Fällen komplett weg davon." Natürlich sei eine Abstinenz wünschenswert. Aber sie von Vornherein als einzige Notwendigkeit für den Erfolg einer Therapie festzusetzen, hält Großmann für falsch.

Der Meinung ist auch Müller-Lorenz von der Caritas. Allein durch ein geregeltes Leben und das Loskommen vom illegalen Drogenmarkt fielen zahllose negative Folgen der Abhängigkeit weg: keine Beschaffungskriminalität, keine Verschuldung durch den Rauschgifterwerb, keine Krankheiten, wie etwa Hepatitis oder HIV, durch infiziertes Drogenbesteck. Das kann Felix Großmann bestätigen. Letztlich zählt für ihn nur folgendes: "Sucht ist eine Krankheit und jede Krankheit verdient, behandelt zu werden."

Damit das im Falle von Drogenersatztherapien auch möglich wird, hat die Bayerische Landesärztekammer einen neuen Entwurf der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung ausgearbeitet. Geplant sei, dass das Gesetz zum 1. April 2017 in Kraft tritt, sagt Heidemarie Lux. Die "Therapiefreiheit der Ärzte", wie sie es nennt, also die Flexibilität in der individuellen Behandlung, werde dadurch wieder gewährleistet. Dann würden sich auch hoffentlich wieder mehr Mediziner dazu entscheiden, zu substituieren. Angesichts der ansteigenden Zahl von Drogentoten ist das längst überflüssig: "Wir haben es hier bereits fünf nach 12", sagt Lux.

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