Ebersberg:Wie aus Nachbarn Verfolgte wurden

Ebersberg: Die jüdische Grafinger Malerin Martha Pilliet: Ein Gedenkstein erinnert an ihr Schicksal.

Die jüdische Grafinger Malerin Martha Pilliet: Ein Gedenkstein erinnert an ihr Schicksal.

(Foto: Stadtarchiv Grafing/oh)

Die Unterdrückung von Menschen durch die Nazidiktatur beginnt im Landkreis nicht erst mit der Reichspogromnacht

Von Anselm Schindler, Ebersberg

Sie waren Nachbarn, Bekannte, Freunde. Doch als sie verschwanden, gab es keinen Aufschrei in Grafing. Denn die Leute hatten entweder Angst oder stimmten dem zu, was da passierte. Heute erinnern vier Gedenksteine aus Porzellan an die Grafinger, die im Nationalsozialismus aus der Stadt vertrieben, deportiert und ermordet wurden - oder sich das Leben nahmen. Weil sie Juden waren. Eingelassen sind die Gedenksteine in das Pflaster vor der Grafinger Stadtbücherei.

Heute vor mittlerweile 78 Jahren brachte ein Befehl aus München eine Entwicklung ins Rollen, die erst die Träume, dann die Existenz, dann das Leben von vielen Millionen Menschen unter sich begrub.

Aufgestachelt durch eine Hetzrede von Propagandaminister Josef Goebbels gab die SA-Führung in München den Befehl an die jeweiligen Ortsgruppen heraus, jüdische Einrichtungen, Geschäfte und Synagogen anzugreifen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden mehrere hundert Menschen ermordet, vergewaltigt, 30 000 verhaftet. Auch in München brannten zahlreiche jüdische Häuser, Synagogen und Geschäfte. Die Feuerwehr griff nur ein, wenn das Feuer auf "arischen Besitz" überzugreifen drohte.

Die Nacht zwischen dem 9. und 10. November ging als "Reichskristallnacht" - oder weniger euphemistisch Reichspogromnacht - in die Geschichte ein. Sie markierte den Wendepunkt, an dem von der Ausgrenzung und vereinzelten Übergriffen und Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung zur offenen Verfolgung und schlussendlichen Vernichtung übergegangen wurde.

Die Vernichtungspolitik hat auch im Landkreis ihre Spuren und Narben hinterlassen. Mit dem Konzentrationslager in Dachau befand sich das erste KZ, das dauerhaft betrieben wurde, ganz in der Nähe des Landkreises. Das Lagersystem des Dachauer KZ war weitverzweigt und erstreckte sich bis in den Ebersberger Raum. Im März 1933, zwei Wochen vor der Eröffnung des KZ Dachau, begannen die Säuberungen in der Bevölkerung. Im Landkreis wurden elf Mitglieder der Kommunistischen Partei verhaftet, verschwiegen wurde das keineswegs, auch die Tageszeitung "Der Oberbayer" berichtete von den Verhaftungen und der anschließenden Deportation nach Dachau. Im Juni desselben Jahres folgten 13 Häftlinge aus dem damaligen Ebersberger Amtsgerichtsgefängnis. In den Folgejahren wurden dann auch Juden und psychisch kranke Menschen aus dem Landkreis nach Dachau deportiert.

Auch Zwangsarbeiter aus dem KZ wurden im Landkreis eingesetzt, so schufteten beispielsweise in Steinhöring rund 20 und in Markt Schwaben um die 30 Internierte in sogenannten "Außenkommandos", unter anderem für handwerkliche Arbeiten in einem Kinderheim. Über die Geschichte dieser Zwangsarbeiter ist bis heute nur wenig bekannt. Anders ist das bei den Zwangsarbeitern, die an der Bahnstrecke zwischen Steinhöring und Freimann beim Gleisbau eingesetzt wurden - ihnen ist in Baldham ein Mahnmal gewidmet.

Kreisarchivar Bernhard Schäfer forscht schon seit vielen Jahren zur Geschichte der Verfolgung von Menschen im Landkreis durch die Nazidiktatur. In Vorträgen und Publikationen hat er denen, die zu Nummern degradiert wurden, Namen und Gesichter zurückgegeben. Einer dieser Menschen ist Martha Pilliet, eine Jüdin aus Grafing. Ihr Name steht auf einem der Gedenksteine vor der Grafinger Stadtbibliothek. "Schwermut (Umsiedlung)" ist in ihrer Sterbeakte notiert - die Malerin nahm sich in einem Sammellager im Münchner Stadtteil Milbertshofen im November 1941 das Leben, um der Deportation zu entgehen.

Gelebt hat Martha Pilliet am Ortsrand von Grafing, im Dobelweg 16. Grafing war damals kleiner als heute, rund 6000 Menschen lebten in der Stadt in den 1940er Jahren. Da muss es aufgefallen sein, wenn Menschen verschwanden. Umso absurder scheint es heute, dass sich in der Bevölkerung kein Widerstand regte, als diese Menschen verschleppt und deportiert wurden.

Aus Grafing stammt auch Fritz Hintermayer, der bei der SS Karriere machte und 1944 leitender Lagerarzt in Dachau wurde. Möglicherweise sind sich Hintermayer und Pilliet auf der Straße begegnet, bevor er zur SS ging und sie verschleppt wurde. Nach dem Krieg wurde Fritz Hintermayer wegen Kriegsverbrechen verurteilt und gehängt. Man hatte Hintermayer nachgewiesen, dass er die Ermordung von sieben psychisch kranken Häftlingen, von zwei schwangeren Insassinnen sowie die Tötung von diversen anderen Häftlingen befohlen und teils sogar selbst durchgeführt habe.

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