Ebersberg:Wenn Rinnsteine zu Hürden werden

Wie barrierefrei ist der Landkreis? Die SPD-Landtagsabgeordnete Doris Rauscher überprüft Schein und Sein und entdeckt im Test-Rollstuhl viele Hindernisse.

Von Alexandra Leuthner, Ebersberg

Kontaktlinsenträger haben eine Ahnung davon, wie sich ein Schleier vor den Augen anfühlt, junge Mütter kennen die Mühen, die ein Kinderwagen mit sich bringt, und wer gelegentlich mit dem Rad unterwegs ist, hat vielleicht schon die Erfahrung gemacht, dass er beim Überqueren einer viel befahrenen Straße zwar vom Radweg auf der einen Seite gut hinunterkam, aber auf die hohe Bordsteinkante nicht wieder hinauf, ohne schnell abzuspringen. Ein Rollstuhlfahrer aber kann nicht springen, wer eine alterstypische Sehschwäche hat, kann nicht einfach den Staub aus den Augen wischen, und wer einen Rollator braucht, ist kaum in der Lage, das Stützgerät mal eben über ein Hindernis zu heben. Ihm bleiben die Barrieren.

Ebersberg: Für einen Menschen mit Rollator (links: Ewald Schurer) ist der Rinnstein am Ebersberger Marktplatz schwer zu überwinden.

Für einen Menschen mit Rollator (links: Ewald Schurer) ist der Rinnstein am Ebersberger Marktplatz schwer zu überwinden.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag will auf die Situation von Menschen mit lebenslanger oder auch altersbedingter Behinderung aufmerksam machen und sich dafür einsetzen, dass diese Barrieren weniger werden. Zum Landkreisauftakt der SPD-Aktion "Bayern Barriefrei" hatte die Ebersberger Abgeordnete Doris Rauscher zu einem Praxistest eingeladen. "Wir wollen die Stellen erkennen, wo es zwickt", erklärte sie im Hof des Einrichtungsverbunds Steinhöring, wo sich die Teilnehmer am Freitagnachmittag trafen. Am Ende der Tour, die zunächst zu Fuß und mit Rollstuhl bis zum Bahnhof Steinhöring und dann mit dem Auto nach Ebersberg führte, hatte Rauscher einige dieser Stellen am eigenen Leibe erfahren.

Ebersberg: Doris Rauscher ist nach ihrer Testfahrt im Rollstuhl durch Ebersberg "ziemlich gestresst", wie sie selber sagt.

Doris Rauscher ist nach ihrer Testfahrt im Rollstuhl durch Ebersberg "ziemlich gestresst", wie sie selber sagt.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Mit Rollator wäre der Bundestagsabgeordnete fast gestürzt

Mit sichtbar angestrengtem Gesicht ließ sich Rauscher in einem mechanischen Rollstuhl über die Hauptstraße am Ebersberger Marktplatz schieben, während ihr Parteigenosse aus der Bundestagsfraktion Ewald Schurer neben ihr mit einem Rollator und einer Alterssimulationsbrille kämpfte - und über dem kleinen Rollatorreifen, der im Rinnstein hängen blieb, beinahe zu Sturz gekommen wäre. Christian Kerschner-Gehrling, Leiter des Poinger Pflegesterns, hatte auch noch ein paar Arm- und Beinmanschetten mitgebracht, die mit starken Gewichten den Teilnehmern klar machen sollten, wie viel mehr Anstrengung ein alter Mensch aufbringen muss, um sich fortzubewegen.

Steinhöring Bahnhof nicht Barrierefrei

Unüberwindlich aber ist das Einsteigen in den Zug am Steinhöringer Bahnhof.

(Foto: Alexandra Leuthner)

Das Fazit nach zwei Stunden: Die Ampelphase am Ebersberger Marktplatz beispielsweise ist für einen Menschen im Rollstuhl genauso wie für einen alten Menschen extrem kurz geschaltet. Für beide ist die Abflussrinne aus Kopfsteinpflaster, die an der Straße auf beiden Seiten entlang läuft, ein Riesenproblem. Dass etwa ein Bewohner im Steinhöringer Einrichtungsverbund aber gar nicht erst zum Ebersberger Marktplatz gelangt, wenn ihn nicht eine Pflegekraft hinbringt, hatte die Gruppe bereits vorher am Steinhöringer Bahnhof ausgetestet. Der Bahnhof ist zwar im vergangenen Jahr für 5,7 Millionen Euro vom Freistaat barrierefrei umgebaut worden - und es lässt sich wirklich schön über den ebenerdigen Zugang auf den Bahnsteig rollen. "Dann aber komme ich nicht in den Zug", erklärte David Kruzolka, Vorsitzender der Behindertenvertretung im Einrichtungsverbund.

Bei der Ausschreibung für den Bahnbetrieb sei vergessen worden, die Barrierefreiheit als Kennzeichen aufzunehmen, erläuterte Gertrud Hanslmeier-Prockl, Leiterin des Einrichtungsverbunds. Die Südostbayernbahn, die den Bahnbetrieb übernommen hat, fährt mindestens bis 2024, wenn der Freistaat Geld für die Umrüstung zur Verfügung stellen will, mit alten Zügen, und in die führt eine für Rollstühle unüberwindliche Treppe hinein. Nun will die Südostbayernbahn noch in diesem Jahr eine mobile Einstiegsrampe testen. Eine vage Chance auf eine frühere Umrüstung sieht Ewald Schurer in einer Eingliederung der Filzenexpresslinie, an der Steinhöring liegt, in den MVV, der angedacht ist.

Auch andere Gemeinden werden noch unter die Lupe genommen

Doris Rauscher jedenfalls war froh, als sie nach Überwinden der Rampe, die vom Ebersberger Einkaufszentrum zum Bahnhof hinaufführt, endlich wieder aus dem Rollstuhl steigen konnte. "Ich war echt gestresst." In den nächsten Wochen will die SPD weitere Gemeinden im Landkreis unter die Lupe nehmen, Beispiele für Barrieren gebe es genug, berichteten die Teilnehmer, etwa die Rampe zum S-Bahnhof in Zorneding oder die gesamte Innenstadt von Grafing. "Natürlich ist klar, dass man nicht alle Gehsteige abreißen kann, aber bei Neuplanungen müsse mehr nachgedacht werden", erklärte Kerschner-Gehrling. "Es ist eben ein Unterschied, ob ein Randstein drei oder fünf Zentimeter hoch ist, das sollte jeder Bauamtsleiter im Kopf haben." Auch wären, etwa in Steinhöring an manchen Stellen, eigene Sperrstreifen wichtig, erläuterte Hanslmeier-Prockl. "Rollstuhlfahrer dürfen nicht auf Fahrradwegen fahren, sie gelten im Straßenverkehr als Fußgänger." David Kruzolka war es wichtig, einen weiteren Aspekt zu betonen: Von den neun Prozent der Bevölkerung, die mit Behinderung leben, haben nur vier Prozent ihre Behinderung von Geburt an. Die anderen treffe es teils ganz plötzlich. "Schauen Sie Michael Schumacher an, da war ein einziger Stein im Weg."

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