Ebersberg:Vom Umgang mit seelischen Wunden

Der Volkstrauertag ist dem Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege gewidmet. Die Verlusterfahrungen der Kriegsgeneration aber beeinflussen noch deren Enkel

Von Alexandra Leuthner

An die 100 Millionen Menschen fanden in den zwei Weltkriegen den Tod. Zwischen 1939 und 1945 verloren in jeder Stunde 1 045, in jeder Minute 17 Menschen ihr Leben. Dem stillen Gedenken an diese Väter, Brüder, Mütter, Kinder, Ehemänner, Verwandte und Freunde ist der Volkstrauertag am dritten Sonntag im November gewidmet. Das erlittene Leid jener Kriegsjahre beeinflusst nicht nur die Kriegsgeneration sondern auch deren Nachkommen bis heute. Wir haben mit der Ebersberger Psychotherapeutin Anna Reiter-Kienzle über die Bedeutung des Volkstrauertags und die Folgen der Erfahrungen jener Kriegsjahre gesprochen.

SZ: Warum holen die Soldaten von damals ihre Uniformen heraus, um sich vor den Denkmälern zu versammeln?

Anna Reiter-Kienzle: Wenn man die Ebersberger Heldenallee hinauf geht, wird man an die vielen jungen Männer erinnert, die ja für das Vaterland gestorben sind. Ich gehe davon aus, dass die Uniform für diese Männer ein Mittel ist, zu zeigen, dass man auch so ein Held war. Aber es ist ein verzweifeltes und zweifelhaftes Heldentum. Sie wissen, dass die Kriege kritisiert werden, aber sie haben eben in diesen Kriegen gekämpft. Da ist schon so ein "trotzdem" dabei, wenn man Uniform trägt.

Also ein bewusstes Signal nach außen?

Nicht nur nach außen. Kleider machen Leute, oder? Auch nach innen. In so einer Uniform ist ein Mann doch ein gestandener Mann. Und wo haben Männer in unserer Welt, die immer mehr von Frauen bestimmt wird - selbst die Verteidigungsministerin ist eine Frau-, noch Platz, Held zu sein?

Aber diese Zeit des Krieges hat ja nun gerade keine Heldengefühle in der Mehrheit der Menschen entstehen lassen.

Ebersberg: Auch vor dem Kriegerdenkmal in Markt Schwaben versammeln sich am Volkstrauertag Soldaten und Angehörige von Gefallenen der beiden Weltkriege.

Auch vor dem Kriegerdenkmal in Markt Schwaben versammeln sich am Volkstrauertag Soldaten und Angehörige von Gefallenen der beiden Weltkriege.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Das war eine Zeit der großen Angst, des Überlebens, aber auch der Hoffnung. Doch nach dem Krieg, das höre ich oft von meinen Patienten, hat keiner mehr ein Wort darüber gesagt. Die Erfahrungen aber sind da, sie haben sich psychisch abgelagert, als Angst, als Verlust, als Trauer.

Wie muss man sich das vorstellen?

Das kann unsere Psyche sehr gut verdrängen statt zu verarbeiten. Der Film "Das Wunder von Bern" zeigt das ganz wunderbar. Der Vater kommt nach Hause, ist hart geworden nach allem, was er gesehen hat. Er redet aber nicht und bemüht sich verzweifelt, alles richtig gemacht zu haben. Für solche Menschen war es, als dann die Zeit des Wiederaufbaus kam, leichter, das Schlimme zu verdrängen.

Aber die seelischen Wunden blieben.

Ja. Das ist wie eine Blackbox, die man im Körper mit sich trägt. Und das Schlimme an solch einem Verdrängungsmechanismus ist, dass wir es nicht wissen. So werden die Auswirkungen immer schlimmer. Die Angst bleibt, und die Trauer.

Es wird viel darüber geschrieben, dass diese alten Ängste und Traumata der Kriegsgeneration an ihre Kinder, sogar noch die Enkelgeneration weiter gegeben wird. Sehen Sie das auch so?

Wir identifizieren uns mit unseren Eltern, ohne es zu wissen und übernehmen auch deren Ängste. Wenn ich mich als Kind gut aufgehoben und angenommen fühle, trage ich dieses Gefühl mit mir. Wenn ich aber eine kriegsgeschädigte Mutter habe, übernehme ich ihre schlimmen Gefühle wie Muttermilch. Meine Mutter etwa hat ihren Bruder sehr jung im Krieg verloren, und obwohl ich ihn nie gekannt habe, hatte ich immer das Gefühl eines Verlusts, weil ich ihre Trauer gekannt habe.

Ebersberg: Psychotherapeutin Anna Reiter-Kienzle.

Psychotherapeutin Anna Reiter-Kienzle.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Nun erlebt unsere Generation und auch die unserer Eltern wieder die Nähe eines Kriegs, in Person der Flüchtlinge aus Syrien, der Ukraine, aus Afghanistan. Haben die erlittenen oder auch ererbten Kriegserfahrungen einen Einfluss auf unser Empfinden gegenüber den Flüchtlingen? Die einen helfen - die anderen lehnen sie total ab...

Ich gehe davon aus, dass unsere Reaktion viel mit Klischees zu tun hat. Die Angst vor dem Schwarzen Mann, das ist ja nichts Neues. Fremdes hat immer das Potenzial, uns Angst zu machen, besonders wenn wir mit solchen Beziehungsmustern aufgewachsen sind. Und so ist es ganz wichtig für unsere Gesellschaft, diese Angst durch Begegnung aufzulösen. Ich war gerade in Lissabon, dort ist die Gesellschaft total bunt gemischt, da war von dieser Angst gar nichts zu spüren. Aber die Angst hier hat sicher auch etwas mit Besitzverhältnissen zu tun, mit dem Gefühl, "die nehmen uns alles weg, was wir in den letzten 70 Jahren aufgebaut haben". Dazu kommt aber unsere Unfähigkeit, mit Trauer umzugehen. Wenn unsere Psyche etwas nicht packt, dann reagiert sie mit Verdrängung, ähnlich wie bei einem Schock. Die Sprachlosigkeit der Nachkriegszeit hat das noch mehr gefördert, da ist vieles der Verdrängung anheim gefallen. Und nun kommen all diese Familien zu uns, die trauern um ihre Angehörigen, und wir sollen damit umgehen. Auch davor haben wir Angst.

Kann man diesen Menschen mit ihren aktuellen Kriegstraumata wirksam bei deren Überwindung helfen?

Man kann sicher die Wunden angehen. Aber jeder Mensch hat auch eine unterschiedliche Resilienz. Manche gehen durch große Krisen und richten sich wieder auf. Andere sind für den Rest ihres Lebens fertig. Dann kommt es auch nicht zu einer Verarbeitung.

Und der Besuch mit den Kameraden beim Kriegerdenkmal kann bei der Verarbeitung helfen?

Hier geht es eher um ein Ritual: das Aufmarschieren, das Miteinander. Das hat eher etwas mit der Suche nach Stärke zu tun.

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