Ebersberg:Schöpferische Chemie

Lesezeit: 5 min

Bei den Ateliertagen im nördlichen Landkreis zeigen am Wochenende zwölf Künstler und Künstlerinnen vergnügliche und poetische Werke aus Bildhauerei, Malerei, Fotografie und Installation. Auch Mitmach-Aktionen sind geplant

Von Rita Baedeker

Kunststoff, so heißt es, besteht aus großen Molekülen, die sich miteinander verbunden haben. Bei den "Kunststoff" genannten Ateliertagen kommendes Wochenende in Poing, Anzing, Parsdorf und Markt Schwaben kann man über molekulare Zusammenschlüsse weit hinausreichende Verbindungen entdecken - Verbindungen aus Elementarteilchen wie Fantasie, Poesie, Schaffensfreude, Experimentierlust und Liebe.

"Kopf" der Künstlergruppe, die dieses Jahr Fünfjähriges feiert, ist Inge Schmidt, die sich mit Conny Boy, Rosemarie Hingerl und Cornelia Propstmeier den kleinen kühlen Raum teilt. Inge Schmidt pflegt seit einem Jahr eine innige Verbindung zu den Gedichten von Rainer Maria Rilke. Als sie dann das "Rilkeprojekt" entdeckte, eine CD, auf der bekannte Schauspielerpersönlichkeiten Texte des Dichters sprechen, zart unterlegt mit Musik, war es um sie geschehen. "Ich habe mich verliebt - in Rilkes deutsche Sprache", sagt Schmidt. Verliebtsein bringt es mit sich, dass man gerne mal die Welt ausblendet. Und so hat sie es auch mit ihrem Rilke gemacht. Sie hat sich die Augen verbunden, vor sich ein Blatt Papier, Kreide und Stift. Dann hörte sie einfach nur zu, von nichts abgelenkt, ganz bei sich. In dieser weltentrückten Stimmung produzierte sie das, was sie einen "nicht kalkulierten Duktus" nennt, also Striche, Kreise, mal mit linker, mal mit rechter Hand, im Takt der Sprache und der Musik. "Mich fasziniert, wie fein und luftig Rilke mit Sprache umgeht." Vor allem das Gedicht "Rosennacht" hat es ihr angetan. Beim Hören dieser Zeilen - "Heute will ich dir zu Liebe Rosen fühlen, Rosen fühlen dir zu Liebe" - entstand eine Zeichnung, ein Gebilde wie ein Kronleuchter, der die Theatralik des Gedichts betone, sagt Schmidt.

Im prächtigen Garten des Loherhauses in Frotzhofen zeigt Peter Böhm seine Druckwerke, die er mittels überschüssiger Gummiteile aus der Industrie fertigt. Ein kleiner Bairischkurs ist inbegriffen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Ein rhythmischer Wechsel, in diesem Fall von Natur- und Stadtlandschaften mit ihren Baumgruppen und Wolkenbänken, ihren Industriebrachen und Gewerbebauten, charakterisiert die Arbeiten der Architektin Cornelia Propstmeier. Auf einem der Bilder gleitet eine in horizontalen Schichten erzählte Bildserie am Auge vorbei, unterbrochen von Lichtspielen, die das Ganze in die Sphäre des Traums, der Fantasie verlagern.

Die vom Lichtfluss geblendeten Augen werden beim Blick zur nächsten Wand auf einen Schlag scharf gestellt. Denn da herrscht die Farbe Pink - "das bessere Rosa", wie die Malerin Rosemarie Hingerl erklärt. Für ihre großformatigen, verlockend üppigen Blüten, die vor Energie zu beben scheinen, als wollten sie jeden Moment zerspringen wie Glas, hat sie das gesamte Spektrum der Farbe ausgereizt: Hot Pink, Deep Pink, Light Pink, Shocking Pink. Die Farbe saugt den Blick ein wie eine fleischfressende Pflanze, dominant, aufregend, charakterstark und kraftvoll.

Bei den Werken von Johannes Mayrhofer (links) und Norbert Haberkorn kommt es darauf an, intensiv und genau hinzuschauen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Wen dieser Pink-Overkill zu sehr anregt, der findet Ruhe in den Arbeiten von Conny Boy und ihren abstrakten Fantasieformen, die hinter matten Farbschichten ein Geheimnis zu bergen scheinen. Bei drei Bildern schuf sie durch Zugabe von Sand, verklebtem Papier, Acryllasur und Kreide eine haptische Qualität, die den abgebildeten Nicht-Gegenständen den Zauber eines archaischen Artefakts verleihen.

Karl Orth, der dieses Mal zusammen mit Peter Sebastian Stöckl ausstellt, zeigt figurative und filigrane Eisenplastiken, die auch überregional Beachtung finden. Soeben hat ihm die Kunstzeitschrift Art Mundus ein mehrseitiges Künstlerporträt gewidmet. Stöckl bezieht sich in seinen Fotoarbeiten unter dem Titel "Alles in Buddha" auf Orths Gestalten. Die sichtbare und spürbare Frömmigkeit der Mönche und der Laien dieses Glaubens haben ihn in Bann gezogen, der durch Erfahrungen als Ministrant mit farbenfrohen Kirchen, Heiligenbildern, Statuen, Gewändern, Weihrauch, Glockengeläut, Musik und Gesang "vorbelastet" ist, wie er schreibt.

Inge Schmidt und Rosemarie Hingerl präsentieren in Poing ihre ebenso poetischen wie farbintensiven Bilder. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Auch für die Architektin und Kunsttherapeutin Ulrike Pfeiffer in Parsdorf sind Farben Seelennahrung. In der Therapie hilft sie Patienten, schöpferische Kräfte freizusetzen. Als Künstlerin baut sie ganz auf die Erfahrung der Sinne. Im Inneren ihres Ateliers entfalten duftige Tulpen ihre Pracht, die floralen Formen, mal halbgegenständlich, mal abstrakt wie bunte Blasen im Äther, sind ein Sinnbild spielerischer Heiterkeit.

Ein Schwerpunkt der Ateliertage ist auch dieses Mal das Loher-Haus in Frotzhofen. In den renovierten Räumen des längst verstorbenen expressionistischen Künstlerpaars Joseph Loher und Gretel Loher-Schmeck sowie im Flur des alten Bauernhauses zeigen der Fotograf Norbert Haberkorn und der Maler Johannes Mayrhofer ihre Werke. Im blühenden Bauerngarten hat vulc-art-Meister Peter Böhm plakatgroße Planen aufgestellt. Auf der einen Hälfte sind Strukturen abgebildet, die im Druckverfahren mit dem "Austrieb" genannten Überschuss, der bei der Herstellung von Gummiteilen anfällt, entstehen. Auf der anderen Hälfte stehen typische Sprüche und Kommentare zum Thema Kunst. Zum Beispiel "ko i a" oder "feischosche" oder auch "vuizdeia". Besucher, die Bairisch sprechen, sind hier im Vorteil. Spruchkarten sowie eine Kartenbox mit kreativem Potenzial sind käuflich. Titel: "Esduadsiwas".

Den blühenden Garten ins Atelier geholt hat die Architektin und Kunsttherapeutin Ulrike Pfeiffer. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Auch drin im Haus tut sich allerhand. Zum Beispiel steht da ein gedeckter Tisch. "Malzeit!" heißt das witzige Arrangement aus Teller, Glas, Besteck und einer Pfanne, in der ein bunter Farbbrei "brutzelt". Auch eine "Bastelwerkstatt" für kreative Besucher mit Holzbrett, Papier und Grafitstiften zum "Rubbeln" steht bereit. "Mal schauen, ob die Leute das nutzen", sagt Johannes Mayrhofer.

Mit Norbert Haberkorn bespielt er den großen Raum. Der eine, indem er in einem aufwendigen künstlerischen Verfahren Zufallsstrukturen und Bildräume mit Requisiten aus der "Sammelkiste der Malerei" schafft. Der andere, indem er mit Hilfe der Kamera Räume und Bildinhalte bewusst macht, die für das Auge fast nicht wahrnehmbar sind.

Mayrhofer hat sich dieses Mal dem Motiv "Kühe" zugewandt. Die Reize des Rindviehs entdeckte er anlässlich einer Malreise nach Kreta, zumindest mythologisch in Gestalt des Stiers, der Europa entführte. "Aber ich bin Allgäuer, und im Allgäu gibt es sehr, sehr viele Kühe", sagt Mayrhofer. Auf beinahe jedem Bild sind sie zu sehen - klein, groß, auf grüner Fläche, inmitten einer wellenförmigen wirbeligen Struktur, genannt "Föhn". Ein anderes Gemälde, "Alp-Trauma" genannt, zeigt die Gestalt einer Kuh in hellem Blau. Die vier Beine himmelwärts, schwebt sie in den Wolken, den Kopf Richtung Erdboden verdreht, wie ein Sternbild, das über einem Gebirgsstock lastet. "Beim Malen versuche ich eine Balance zu finden zwischen Zufallskräften der Materialien und den Gestaltungsaufgaben, die sich aus der Bildidee ergeben", sagt der Künstler. Mayrhofer ließ die Farbe trocknen, dann spritzte er das Bild mit dem Gartenschlauch wieder ab, so dass die Oberfläche wirkt wie ein Ausbrennermuster. Gerne versteckt er kleine Details in den Motiven, zum Beispiel in dem Bild "Den Bach runter", eine Arbeit mit Geröll, Bach und Brücke samt schwarz-rot-goldenem Fähnchen. Was dieses da zu suchen hat, versteht man, wenn man den kleinen Fußball am rechten Bildrand entdeckt hat, der gerade aus dem Blickfeld verschwindet.

Apropos Blickfeld! Mit dem Blick aus der oder in die S-Bahn beschäftigt sich seit 2008 Norbert Haberkorn. Sein foto-soziologisches Projekt S2*-Life in Transit" setzt er nunmehr fort mit einem Teilaspekt des Transitraums - dem Tunnel. Die neuen Fotoarbeiten erzählen von Lichtexplosionen beim Ausfahren aus einem Tunnel wie am Ostbahnhof, aber auch von einer geheimnisvollen Unterwelt, die sich während der Einfahrt in die Röhre für Bruchteile von Sekunden in der Öffnung zur Nachbarröhre materialisiert. "Eine pharaonische Gottheit mit einem funkelnden Stein in der Hand", so deutet Haberkorn das Graffito, das er an der Stelle entdeckt hat. Doppelte Lichtreflexionen im Vorbeifahren am alten Bahnhof von Heimstetten, einsame Migranten am Gleis, sich an Brückenpfeilern spiegelnde Köpfe. "Verborgene Realität, die kaum beachtet wird", sagt Haberkorn. "Um sie zu erfassen, genügt das Auge nicht mehr, da braucht man die Kamera."

Am Samstag, 20. Mai, 16 bis 22 Uhr, und Sonntag 21. Juni, 13 bis 18 Uhr, öffnen folgende Künstler ihre Ateliers: Inge Schmidt, Conny Boy, Cornelia Propstmeier und Rosemarie Hingerl, Kampenwandstraße 1, Poing; Karl Orth und Peter Sebastian Stöckl, Eichenweg 4, Poing; Siegfried Horst und Brigitte Stanke, Aquarelle und Textilarbeiten, Amselweg 17, Anzing; Peter Böhm, Johannes Mayrhofer und Norbert Haberkorn, Loherhaus, Kirchenweg 11, Frotzhofen; Maria Heller, Holzschnitte, und Holzbildhauer Stefan Andreas Pillokat, Markgrafenweg 33, Markt Schwaben; Ulrike Pfeiffer und Melanie Kirchlechner, Holz und Blattwerke, Hartholzweg 14, Parsdorf.

© SZ vom 19.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: