Ebersberg:Recht gewöhnlich

Amtsgericht Ebersberg - Symbolbilder

Der Sitzungssaal II im Ebersberger Amtsgericht ist Vera Höraufs Arbeitsplatz. Im Hintergrund der Richtertisch, vorne rechts die Anklagebank.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Eine Verhandlung vertagt, einen Einspruch abgewiesen, drei Angeklagte verurteilt und einen frei gesprochen - so sieht ein ganz normaler Arbeitstag von Richterin Vera Hörauf am Ebersberger Amtsgericht aus

Von Jan Schwenkenbecher

"Depp, Arschloch, und halt die Fotzn, haben Sie das gesagt?", fragt Vera Hörauf. Sie sagt es nüchtern, klar und deutlich. Wie wenn man bei einem Online-Lexikon unter dem Stichwort Arschloch auf Aussprache klickt. Ihr dunkelbraunes Haar hat sie glatt gezogen. Ein Dutt hilft, die Form zu wahren. Sie trägt eine dunkle Brille, unterhalb des Halses beginnt die Robe. Sie hat kein Problem damit, böse Wörter zu sagen. Sie hat schon Schlimmeres gesagt, auch schon Schlimmeres gesehen. Manchmal sieht sie Bilder von Knochenbrüchen, manchmal Kinderpornos. Sie sagt, dass ihr das nichts ausmacht. Dass sie sich an die Fakten hält. Dass sie das eben so wiederholt, wenn das so gesagt wurde. "Habe ich nicht",antwortet Herr G., "ich habe nur gefragt, woher er so eine schöne Hupe habe. Das hat er vielleicht falsch verstanden." Aussage gegen Aussage. Was bleibt, ist seine Spucke auf der Windschutzscheibe des anderen.

Vera Hörauf ist Strafrichterin am Ebersberger Amtsgericht. Sie hat ein mittelgroßes Büro, mittelviele Stifte auf dem Schreibtisch, mittelviele Bücher im Regal. Und sie hat viele Schnellhefter aus rotem Karton - Akten. Immer montags, mittwochs und freitags liest sie in den Akten. Immer dienstags und donnerstags nimmt sie ein paar der roten Schnellhefter und geht damit in Sitzungssaal II.

Die weißen Wände dort sind grob verputzt, blaugrauer Filzteppich, vier Zuschauerreihen, die knarzen, wenn man das Gewicht verlagert. Schauen die Angeklagten von ihrer Bank nach rechts, sehen sie den Richtertisch. An der Wand darüber hängt ein Kruzifix. Schauen die Angeklagten nach vorne, sehen sie die Staatsanwälte. Dahinter sind große, deckenhohe Fenster. Sie lassen sich kippen, ganz auf gehen sie nicht. Man kann ja nie wissen.

Es sind nicht die großen Fälle, die hier verhandelt werden. Vielmehr geht es um Beleidigung, Schwarzfahren, Kneipenschlägereien, geklaute Schminke. Es geht um den Alltag. Etwa 680 000 von insgesamt 690 000 Verhandlungen fanden 2014 an deutschen Amtsgerichten statt, auf der niedrigsten Ebene der Justiz.

Herr G. erhebt sich mühsam von der Anklagebank und humpelt auf seinen Krücken zur Protokollantin. "Darf ich mal", fragt er und greift nach dem Bildschirm. Die verdutzte Schriftführerin murmelt noch ein "äh, nein", aber erst das entschiedene "Stopp" von Vera Hörauf lässt Herrn G. innehalten. Er habe ja nur zeigen wollen, dass es ihm gar nicht möglich gewesen sei, von seinem Roller auf die Windschutzscheibe des Autos zu spucken, der Winkel und so.

Vera Hörauf ist etwa 15 Jahre jünger als der Durchschnitt deutscher Richter. Sie ist 34, Herr G. ist 54. Sie ist eine Frau, er ist ein Mann. Sie sagt "Stopp", er stoppt.

Sie sagt, dass sie glaubt, dass ihre Ausstrahlung Erfahrung ist. Seit April 2015 ist sie in Ebersberg, vorher war sie Staatsanwältin in München, davor drei Jahre lang Proberichterin in Augsburg. An diesem Donnerstag hat sie sechs Verhandlungen. Das normale Pensum. Sie sagt, dass im Jura-Buch das wenigste steht, was man in der Sitzung erlebt. Dass sie gelernt hat, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Dass nicht immer alles logisch ist.

Dann gibt sie Herrn G. zwei Spielzeugautos in die Hand. Wegen der Amtsaufklärungspflicht. Strafrichter wie Vera Hörauf sind verpflichtet, den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Es ist nicht wie im Zivilrecht, wo der eine gegen den anderen klagt und alles gut ist, wenn sich beide einigen. Im Strafrecht klagt der Staat. Und der einigt sich nicht. Hörauf kann Zeugen laden, Gutachten erstellen oder die Polizei ermitteln lassen. Oder, wenn es hilft, Spielzeugautos verteilen.

Herr G. fährt mit dem roten und dem gelben Wagen auf dem Richterpult hin und her, "so war das, da stand ich. Daneben, nicht davor." Von da könne er hat gar nicht auf die Windschutzscheibe des Autos gespuckt haben. Wieder kommt der Winkel ins Spiel.

Wer sich mal in eine Verhandlung am Amtsgericht setzt - als Zuschauer, als Laie, möglicherweise zum ersten Mal - der erlebt was. Kein großes Kino, aber verschieden eine Tat aussehen kann, je nachdem von wo man darauf schaut. Am Anfang kommt die Staatsanwaltschaft mit dem Tatvorwurf. Der Zuschauer ist baff. Dann hört er die Geschichte des Angeklagten, die Gründe, die Umstände, die Erklärungen, und versteht. Glaubt ihm. Dann kommen die Zeugen, erzählen wieder andere Versionen und lassen den frisch gewechselten Glauben in sich zusammenstürzen.

Vera Hörauf aber scheint nichts zu glauben. Nicht das eine, nicht das andere. Sie sitzt an ihrem leicht erhöhten Richterpult und schreibt. Sie schaut selten auf, schaut die Angeklagten selten an. Gelegentlich schiebt sie eine dem Dutt entwischte Locke hinters Ohr, sonst schreibt sie. Das ist nicht nur bei Herrn G. so, das ist auch in den anderen Verhandlungen des Tages so. Als Herr H. erklärt, dass er zwar betrunken gewesen, aber nicht gefahren sei. Als Herr P. erklärt, er habe sich seiner Frau nicht auf unter fünf Meter genähert, sie sei nur zufällig auch auf den Parkplatz gefahren. Als Herr K. erklärt, warum er unbedingt auch den zweiten Mietwagen brauchte, obwohl die Firma den ersten zurückwollte. Und als Herr T. erklärt, dass die Mutter seines Fünfjährigen wollte, dass das Kind nicht mehr T. heiße, damit es nichts mehr mit dem Vater zu tun habe und er dann aus Wut keinen Unterhalt mehr gezahlt habe. Nur als Frau S. nicht zur Verhandlung erscheint, da schreibt sie nicht. Da nippt sie an ihrem grünen To-Go-Becher und schaut aus dem Fenster. Herr G. hat die Spielzeugautos mittlerweile zurückgegeben und sitzt wieder auf der Anklagebank. Der 20-jährige Autofahrer, dem Herr G. auf die Scheibe gerotzt haben soll, zeigt ein Handyfoto, das er vom Fahrersitz seines Wagens geknipst habe. Darauf zu sehen ist ein Spuckfleck auf einer Windschutzscheibe. Im Hintergrund sieht man Herrn G. auf seinem Roller, vor dem Auto. Nicht daneben. "Vielleicht habe ich ja überreagiert, die Polizei zu rufen", sagt der 20-Jährige, "aber ich war da so gereizt." Vera Hörauf schließt die Beweisaufnahme.

Es gibt am Amtsgericht viele solcher Fälle wie den des Herrn G. Fälle, die auf den ersten Blick wie banales Gezanke ausschauen und es auch auf den zweiten Blick noch sind. Fälle, die es nie in die Nachrichten schaffen, von Titelseiten ganz zu schweigen. Sitzungssaal II hat zwei Türen. Eine für "Prozessbeteiligte", eine für "Zuschauer". Letztere bleibt meistens ungenutzt. Aber ab und zu, da gibt es auch die anderen Fälle. Wo Vera Hörauf einen Anfang 20-Jährigen ins Gefängnis schickt, weil er den neuen Freund seiner Ex würgte. Oder wo sie einen 42-jährigen Mann einsperren lässt, der seine Freundin auf der Toilette filmte, sie im See fast ertränkte, sie Zuhause einsperrte und später, als er sich ihr nicht mehr nähern durfte, mehrmals bei ihr einbrach. Wo sie statt Geld- Freiheitsstrafen verhängt. Wo Angeklagte, Opfer oder Zuschauer heulen und brüllen. Hörauf sagt, dass man es abends schwer hat, nach Hause zu gehen, wenn man das persönlich nimmt. Sie sagt auch, dass sie es nie persönlich nimmt.

Und es gibt auch diese Momente, in denen sich beide Arten vermischen. Das Langweilige und das Krasse. Bei Herrn G. sind das die Vorstrafen. 14 Stück sind es insgesamt, mehrere Minuten braucht Vera Hörauf, um sie vorzulesen. Diebstahl, sexuelle Nötigung, Beleidigung, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Körperverletzung. Erst saß da ein älterer Herr, der sich für einen kurzen Moment etwas zu arg aufregte. Jetzt sitzt da ein alter Mann, der sich selbst nicht unter Kontrolle hat.

Herr G. hat das letzte Wort, bevor Vera Hörauf das Urteil verkündet. Er steht auf, erklärt das mit dem Winkel noch mal. "Aha, okay", sagt Vera Hörauf. Und dann leise: "Machen Sie doch vielleicht mal Ihre Hose zu." Er bekommt 120 Tagessätze à 20 Euro. "Das ist jetzt die höchstmögliche Geldstrafe", sagt Vera Hörauf, "beim nächsten Mal müssen wir über eine Freiheitsstrafe reden." Wegen der vielen Vorstrafen. Um Viertel vor vier klappt Vera Hörauf den letzten roten Schnellhefter zu. Eine Verhandlung hat sie vertagt, einen Einspruch abgewiesen, drei Angeklagte verurteilt und einen frei gesprochen. Zwischendurch war sie irgendwo Mittagessen. Sie stapelt die Akten aufeinander und zieht ihre Robe aus. Sie trägt eine graue Bluse, eine Jeans und hohe Stiefel. Einen weißen Schal hat sie um den Hals gewickelt, sie ist etwas erkältet. Feierabend.

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