Bildungspolitik:Hilferuf aus dem Klassenzimmer

Lesezeit: 3 min

Über die Umsetzung der Inklusion sprechen Martin Esterl, Albert Hingerl, Doris Rauscher, Jörn Bülck, Helga Schneitler und Susanne Anderl-Schottner. (Foto: Christian Endt)

Zu wenig Geld, Personal und Raum: Der Wille zur Inklusion an Grund- und Mittelschulen im Landkreis ist da, doch die Umsetzung gestaltet sich als fast unmöglich

Von Franziska Langhammer, Poing

Den Stein ins Rollen brachte ein Hilferuf: Susanne Anderl-Schottner, Leiterin der Grund- und Mittelschule Markt Schwaben, wandte sich mit einer dringlichen Bitte an das Poinger Förderzentrum, die Seerosenschule. Für die vielen verhaltens- und lernauffälligen Kinder ihrer Schule brauche sie spezielle Expertise und vor allem geschultes Personal. In solchen Fällen wird normalerweise ein Mobiler Sonderpädagogischer Dienst (MSD) geschickt - eine Hilfestellung, die Sonderpädagogen etwa in Form von Förderklassen an Regelschulen leisten. "Da haben wir festgestellt", so Jörn Bülck vom Förderzentrum, "dass meine Schule das in dem Umfang gar nicht stemmen kann." Zumal er im letzten Schuljahr gar nicht alle Stellen an seiner eigenen Schule besetzen konnte.

Das nüchterne Fazit acht Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention lautet: Auch wenn die Grund- und Regelschulen die Inklusion wollen, ist es schwierig bis nicht möglich, sie in der Praxis umzusetzen. Es fehlt an Personal, an Räumlichkeiten, an Geld; auch im Landkreis Ebersberg. "Es sieht duster aus", resümiert die Landtagsabgeordnete Doris Rauscher (SPD) bei einem Treffen von SPD-Politikern und einer Abordnung von Schulleitern aus dem Landkreis. Im Frühjahr wurde auf Initiative von 14 Grund- und Mittelschulen sowie Förderzentren im Kreis Ebersberg die Politik mit ins Boot geholt; in der Öffentlichkeit soll so das Bewusstsein dafür geschärft werden, was momentan alles falsch läuft in der Bildungspolitik - vor allem mit Blick auf die Inklusion. Rauscher spricht von einer "Riesenqualitätslücke", die auf dem Rücken der Lehrer und insbesondere der Kinder ausgetragen wird. Grund für die fehlenden Ressourcen an allen Ecken und Enden ist zum einen der gewaltige Anstieg an sonderpädagogischem Bedarf: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Regelschulen im Landkreis Ebersberg, die spezielle Unterstützung brauchen, hat sich dem bayerischen Kultusministerium zufolge in den letzten zehn Jahren versechsfacht.

Schulleiterin Anderl-Schottner bestätigt: Allein für die sechs ersten Klassen, die momentan an der Grundschule Markt Schwaben unterrichtet werden, bräuchte sie für jede Klasse mindestens eine Wochenstunde MSD; nicht nur, um einzelne Schüler zu fördern, sondern auch, um dem restlichen Klassenverbund Ruhe zu verschaffen. Um diesen Bedarf zu decken, fehlt es jedoch schlichtweg an Personal. Prognosen zufolge wären in Bayern bis 2020 jährlich 430 neue Sonderschulpädagogen nötig, voraussichtlich gibt es jedoch nur 360 Absolventen pro Jahr.

Hinzu kommt die Frage, ob es noch zeitgemäß ist, eine Klasse erst ab 28 Schülern zu teilen, wenn prozentual immer mehr Kinder besonders gefördert werden müssen. Momentan müssen diese extremen Anforderungen vor allem die Lehrer stemmen, nicht selten unentgeltlich und in ihrer Freizeit. Während für das Personal an Schulen das Kultusministerium zuständig ist, liegt es am Landkreis, sich um die Räumlichkeiten zu kümmern.

Die Bereitschaft im Kreis Ebersberg, sich um einen Ausbau der Schulen zu bemühen und so mehr Platz für die Betreuung einzelner Schüler zu schaffen, sei groß, erklärt SPD-Kreisrat Martin Esterl, der selbst viele Jahre als Lehrer gearbeitet hat. Jedoch scheitere man immer wieder am Mauern der oberbayerischen Landesregierung, die an den alten Raumprogrammen festhalte. Diese Berechnungen, wie viel Platz pro Schüler benötigt würde, stammen aus den 90er Jahren und werden laut Esterl den heutigen Anforderungen schlicht nicht mehr gerecht.

Jörn Bülck vom Förderzentrum Poing erklärt, die Klassen sähen heute eben anders aus als noch vor zwanzig Jahren; in einer Klasse an seiner Schule beispielsweise habe beinah die Hälfte der Kinder einen Schulbegleiter an der Seite, der sie bei den alltäglichen Dingen unterstütze. Für den zeitweiligen Rückzug vom Unterrichtsgeschehen brauche es Platz. "Förderzentren müssen neu gedacht werden", sagt der Leiter der Seerosenschule, Bülck.

Ein Positivbeispiel ist die Betreuung im Kindergarten: Ist ein verhaltensauffälliges oder förderbedürftiges Kind in der Gruppe, bekommt es in Bezug auf die Gruppenstärke die 4,5-fache Gewichtung zugeschrieben; daran orientiert sich dann die Anzahl der Betreuer. Diese Personalpolitik, so sind sich die Schulleiter einig, müsse auch nach der Einschulung fortgeführt werden.

Die Forderungen an die Politik, die sich aus dem derzeitigen Chaos an den Schulen ergeben - die Überarbeitung des Raumprogramms, mehr Engagement bei der Gewinnung von Sonderpädagogen und die Zuweisung zusätzlicher Stunden an die Schulen - wollen die SPD-Politiker nun im Kreis- und Landtag einbringen.

© SZ vom 15.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: