Anzing:Erholung von den Strahlen

Familien aus Weißrussland machen Ferien in Anzing

Von Thorsten Rienth, Anzing

Wer dort wohnt, sieht zu, dass er wegkommt. Weit weg von dem kleinen weißrussischen Dorf Wolinzy, das gerade außerhalb der offiziellen Sperrzone liegt, die Menschen vor den Nachwirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl schützen soll. Seit dem Jahr 1991 organisiert die Anzinger Initiative "Hilfe für Kinder aus der Gegend von Tschernobyl" Schülern aus der Region eine Erholung im Landkreis. Für Organisatorin Ingeborg Nünke ist die Suche nach Gastfamilien die alljährliche nervenaufreibende Herausforderung. Auch diesmal ist es wieder geglückt: Wenn der Bus aus Wolinzy an diesem Sonntag ankommt, gibt es für alle 58 Gäste eine Gastfamilie.

Zwei Tage und eine Nacht werden sie dann von ihrer kleinen Ortschaft etwa 100 Kilometer nördlich vom ukrainischen Tschernobyl unterwegs gewesen sein. Ein Gebiet, das für Jahrhunderte als unbewohnbar gilt, in dem aber dennoch Menschen leben. Etwa 3000 Einwohner zählte das Dorf vor 25 Jahren. Inzwischen ist Nünke zufolge noch ein Bruchteil da. In der Infrastrukturplanung des Landes spiele das deshalb Dorf keine Rolle mehr.

Vier Wochen bleiben Gäste im Landkreis Ebersberg. Tage, in der sich geschädigte Immunsysteme erholen sollen. Zeit aber auch für seelische Entspannung, für Ausflüge und Unbeschwertheit. Zeit für Kontakte weit hinter dem heimatlichen Horizont. Aus vielen dieser Kontakte sind mit den Jahren richtige Freundschaften geworden. "Manche von den Kindern, die schon in den 90er Jahren im Landkreis waren, haben inzwischen ihre eigenen Kinder dabei", erzählt sie Anzingerin. "Viele haben eine feste Gastfamilie, die sie jedes Jahr wieder besuchen." Für alle anderen versuchen Nünke und Kollegen, passende Gastfamilien zu finden. "Was immer gut ist, sind ungefähr gleichaltrige Kinder." In aller Regel ist der Verein aber schon froh, wenn er überhaupt alle angekündigten Gäste unterbringt.

Nünke ist nicht nur bei der Gastfamiliensuche auf die Unterstützung der Ebersberger angewiesen. "Für Notfälle sind die Kinder natürlich krankenversichert." Nicht aber für die so wichtigen Routineuntersuchungen. Leukämie und Krebstumore sind in der Gegend von Wolinzy viel häufiger als in Süddeutschland. Viele der Kinder leiden unter Schilddrüsenerkrankungen und Mangelerscheinungen. Nünke appelliert deshalb auch in diesem Jahr wieder an die Ebersberger: "Falls Sie zum Arzt gehen, fragen Sie ihn doch einmal, ob er sich nicht ein weißrussisches Kind einmal kostenlos anschauen würde." Wenn Ende Juli alle wieder zurück in Wolinzy sind, geht der Alltag weiter, ist die Strahlenbelastung wieder da. Seit dem Jahr 2000 organisiert die "Hilfe für Kinder aus der Gegend von Tschernobyl" zusätzlich mit Spenden eine Ausbildungsunterstützung. Die Initiative verfolgt damit zwei Ziele. "Das erste ist natürlich, dass die Jugendlichen einen Beruf erlernen können und damit praktisch die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben bekommen." Zum anderen bedeutet eine Ausbildung auch immer, die verstrahlte Gegend hinter sich zu lassen. Da ist es ausnahmsweise ein Vorteil, dass es in Wolinzy keine Ausbildungsplätze gibt.

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