Drogen:Die Katakomben des Münchner Hauptbahnhofs - Rückzugsort der Junkies

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Lange Gänge erschließen den Münchner Hauptbahnhof von unten. (Foto: SZ)

Wenn die Polizei Süchtige vertreibt, weichen diese in die unterirdischen Gänge aus, die nur Eingeweihte kennen. Für sie ist es ein Schutzraum - aber dort spielt sich auch Grausiges ab.

Von Julius Heinrichs und Bartholomäus von Laffert

Hannes gehört nicht hierher. Da steht er, zittrig und unter Drogen, am Karstadt gegenüber dem Hauptbahnhof und pinkelt gegen die Wand. Die Passanten mit ihren schweren Einkaufstüten von Zara und Saturn, die Touristen mit ratternden Köfferchen - aus ihren Blicken blitzt die Abneigung. Hannes, der in Wirklichkeit anders heißt, bekommt davon nichts mit. Die Stadt will eigentlich auch nichts mitbekommen von ihm. Denn damit Junkies wie er das Stadtbild möglichst wenig trüben, setzt die Polizei auf "gewisse Verdrängungsmaßnahmen, um das subjektive Sicherheitsgefühl nicht zu stören", wie Hubert Halemba sagt, der Leiter des Drogendezernats der Münchner Polizei. Das heißt: Polizeipräsenz und Kontrollen. Wohin aber weichen dann die Junkies aus?

Sie tauchen buchstäblich ab, an Orte jenseits der Öffentlichkeit: in den Untergrund, in die Katakomben. So nennen Abhängige den unterirdischen Bereich unter dem Hauptbahnhof. Hier können sie sich ungestört den nächsten Schuss Heroin setzen oder Crystal Meth rauchen. Die Katakomben sind einer dieser Orte, über die es mehr Geschichten als Wahrheiten gibt. Und einer, von dem viele wissen, aber niemand gerne spricht. Nicht die Bahn, nicht die Stadt, nicht die Polizei und am allerwenigsten die Junkies selbst. Auch Hannes geht nicht gern dorthin, wie er sagt. Wer einmal unten war, weiß warum. Wer mit Junkies spricht, hört immer wieder grausige Gerüchte über diesen Untergrund. Sie handeln von Vergewaltigungen, Beschaffungskriminalität oder Leichen, die tagelang unentdeckt blieben. Belegen lässt sich davon freilich nichts.

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Hannes steuert mittlerweile mehr instinktiv als bewusst auf den Lieferanteneingang des Bahnhofs zu. Er liegt abseits, links vom Hauptbahnhof. Ein gutes Dutzend Arbeiter wuselt herum, verlädt Euro-Paletten und eingeschweißte Pakete. Andere sitzen draußen, rauchen und quatschen. Hannes, der gerade über eine Stiege im Untergrund verschwindet, beachtet niemand. Die Eingangstür ist sperrangelweit geöffnet - kein Hinweis verbietet den Zutritt. Unten findet sich Hannes in einem wirren Gänge-System wieder. Zu weitläufig, um sich auf Anhieb orientieren zu können. An den Wänden Generatoren, Rohre, Hunderte Kabel - die gesamten Versorgungsleitungen des Hauptbahnhofs. Dazu Lagerräume und Zuliefergänge der ansässigen Shops. Und immer wieder schwere Brandschutztüren. Und andere Türen, auf denen "Lebensgefahr" steht.

Lebensgefahr - für Menschen wie Hannes gilt das immer. Seit 16 Jahren ist er abhängig, sein halbes Leben lang. Anfangs Gras, später Kokain, inzwischen Heroin. Hier unten kommt er hin - "einfach, um von der Straße wegzukommen", sagt er. "Oben ist es ja doch sehr gefährlich für einen, irgendwo von der Polizei aufgegriffen zu werden." Hier unten passiert das kaum. Das wirre Gänge-System gibt ihm Sicherheit. Eine, für die er mit Lebensgefahr bezahlen könnte. Denn wenn er sich hier unten eine Überdosis spritzt oder schmutzigen Stoff, dann findet ihn niemand. Zumindest nicht schnell genug.

Kritiker finden das typisch für die bayerische Drogenpolitik. Prävention, Beratung und Hilfe sowie Repression durch Maßnahmen der Polizei und Justiz - es wird vieles getan, um die Leute vor der Abhängigkeit zu schützen. Nur: Wen all dies nicht abhalten konnte, der hat schlechte Chancen, je den Weg zurück zu finden. "Ich geh' nur in die Katakomben, weil wir sonst nirgends hinkönnen", sagt Hannes. "Was wir bräuchten sind Drogenkonsumräume, damit unsere Klienten unter hygienischen Bedingungen und mit medizinischem Personal im Hintergrund konsumieren können", fordert Heike Zwanziger, Sozialpädagogin beim Drogennotdienst L43. Aber die Staatsregierung sträubt sich gegen solche Orte. Was die Münchner Polizei unbedingt vermeiden will, ist eine Drogenszene gleichsam auf offener Bühne.

Das Untergeschoss des Hauptbahnhofs ist alles andere als eine Bühne. Auf schmale Gänge folgen Hallen mit Lagerbeständen und Müll: Aschenbecher, Fahrradständer sowie Hefte des Bahn-Magazins Mobil. "Dies ist ein rauchfreier Bahnhof", steht auf Schildern. Dann wieder etliche Meter schmaler Wege unter niedrigen Decken, entlang an Sicherungskästen, Türen und Abgestelltem neben "Nichts Abstellen"-Schildern. Wie viele Abhängige nach unten kommen, um hier Drogen zu konsumieren, kann niemand sagen. Auch nicht, wann die Abhängigen das Kellergeschoss für sich entdeckten, dafür werden die Süchtigen zu selten erwischt. Dass Hannes nicht der Einzige ist, verraten leere Flaschen billigen Wodkas, vereinzelte Hülsen von Spritzen. Und über allem immer wieder der stechende Gestank nach Kot, Urin und Erbrochenem.

Kontrolliert wird in den Katakomben nicht viel - dabei gäbe es eine Menge zu kontrollieren

Zuständig für den Bereich unter dem Hauptbahnhof ist die Deutsche Bahn. Wer sich unbefugt in den Katakomben aufhält, verstößt gegen ihre Hausordnung. Die Bahn verweist in einem solchen Fall an die Bundespolizei. Die hingegen sieht sich für die Katakomben nicht zuständig. Aber: Werde ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz festgestellt, dann folge eine Weiterleitung an die Landespolizei. Die meldet Erfolge bei der Verdrängung von Dealern oberhalb des Bahnhofs, nicht aber unterhalb. Hier seien keine Vorfälle bekannt, sagt ein Sprecher.

Vielleicht sind die Junkies deshalb so unsichtbar, weil in den Katakomben des Bahnhofs hohe Toleranz herrscht: Hannes, optisch alles andere als ein Bahn-Beschäftigter, grüßt Lageristen, Bahn-Mitarbeiter und schlecht gelaunte Bäckerei-Angestellte mit einem "Servus". Die Bahn-Sicherheit hat einen Raum gleich hier unten, aber der lässt sich schnell umschleichen. Dabei gäbe es hier unten eine ganze Menge zu kontrollieren. Hannes erzählt davon. "Einige nutzen die Abgeschiedenheit aus", sagt er. Dann lockten sie Touristen nach unten, um sie auszunehmen. Um an Stoff zu kommen, tun Junkies alles: Prostitution, Diebstahl - monoton zählt Hannes die verschiedenen Arten der Beschaffungskriminalität auf. Die Worte fallen müde aus dem Mund, der langjährige Konsum hat seinen Worten die Kraft genommen.

Die Stadt tut gegen diese Parallelwelt im Neon-Dunkel so viel sie eben kann. Das ist nicht viel: "Wir wissen von den Vorkommnissen unterm Bahnhof", sagt Alois Maderspacher vom Gesundheitsreferat. "Wir schicken auch Streetworker an den Bahnhof." In die Katakomben jedoch geht niemand. Die meisten Fixer nämlich bleiben dort nur für ein paar Minuten. Rein, Schuss setzen, raus. Und während des Konsums sind Streetworker chancenlos.

Ein Rollgitter soll die Junkies jetzt draußen halten

Auch die Bahnhofsmission kennt das Problem. Sagt jedoch, dass dessen Lösung unmöglich sei. Junkies bräuchten einen Platz, an dem die Polizei sie nicht sieht. "München hat nicht weniger Drogenabhängige als andere Städte - man sieht sie nur nicht, weil München eine Vertreibungspolitik pflegt", sagt Heike Zwanziger. Meistens verschwinden die Junkies, sobald Bagger und Sicherheitskameras für Umbauten kommen - ein Katz-und- Maus-Spiel. Am Hauptbahnhof soll bald alles umgebaut werden. Aber schon jetzt hat sich die Bahn gewappnet. Es gebe nun ein Rollgitter, das nur mit Chip zu öffnen ist, berichtet ein Mitarbeiter unter der Hand.

Wenn es nicht auch noch die anderen Eingänge gäbe. Durch einen davon ist Hannes gekommen. Jetzt allerdings will er raus hier. Er fühlt sich zu unwohl. Noch zwei Stunden, dann lässt die Wirkung des Heroins nach. Die will er genießen. Und die Katakomben sind kein schöner Ort für einen Rausch.

© SZ vom 05.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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