Dok.fest 2013 in München:"So nah ans Sterben ran wie möglich"

Rennradfahrer mit Selbstvernichtungssehnsucht, stahlblauer Himmel über Utøya und tragische Figuren, die sich mit dem Leben quälen. Das 28. Dokumentarfilmfestival in München zeigt, warum die wahren Realisten die eigentlichen Visionäre sind.

Filmtipps von den SZ-Filmkritikern

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Dok fest München 2013

Quelle: Dok.fest/oh

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Der Dokfilm wuchert. Das Weltkino hat er längt infiltriert mit seinen Ausblicken auf exotische, wilde, besessene Lebensverhältnisse. Auch das Münchner Dokfest ist unübersichtlicher geworden mit der Zeit, was an der Fülle des Dokumentarischen liegt, dem weiten Raum, der sich dem Genre zwischen Politik und Poesie öffnet. Die alte Frage nach der Subjektivität, dem Weltbezug ist noch relevant, bedeutet für die Regisseure aber keine Fessel mehr. Doku-Komödien, Liebesfilme und Roadmovies sind beim Festival ebenso zu sehen wie Sportfilme oder Endzeitdramen. Alles Grenzen sprengend, wie es Werner Herzog vormachte, dem eine Retro gewidmet ist. Träume und Albträume - der wahre Realist ist der Visionär, sagte schon Fellini. Natürlich gilt das auch im Dokumentarfilm.

Bild aus dem Film "Ein deutsches Drama: Christiane F. und die Kinder vom Bahnhof Zoo": Ein Dokumentarfilm, der 25 Jahre später die Entstehung des Films über das deutsche "Drogenmädchen" porträtiert.

Der Film läuft am Montag, 13.05.2013, 19:30, ARRI Kino

Dok fest München 2013

Quelle: Dok.fest/oh

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Rafea: Solar Mama

Als wäre ein Außerirdischer im Beduinenzelt gelandet. Draußen: staubige Wüste im Grenzland zwischen Jordanien und dem Irak. Drinnen: eine Großfamilie, die vor Staunen vergisst, an ihren Teegläsern zu nippen. Ihr Gast, ein indischer Professor, sucht für sein Entwicklungshilfeprojekt Frauen, die eine Blitzausbildung als Solaringenieurinnen absolvieren.

Jehane Noujaim, eine amerikanische Filmemacherin mit ägyptischen Wurzeln, hat die einzige Volontärin aus dem Beduinendorf nach Indien und wieder zurück begleitet. Eine spannende Reise, da sich die Filmemacherin nicht nur für das Solarprojekt, sondern mehr noch für ihre Protagonistin Rafea und deren innere Zerrissenheit interessiert.

Die mehrfache Mutter und Analphabetin, die noch nie ihr Dorf verlassen hatte, leidet unter der Trennung von ihren Kindern, hat aber auch eine große Neugierde auf die Welt. Der Film wird zur grotesken Komödie, als Rafea von ihrer Reise nicht nur Kenntnisse in Solartechnik mitbringt, sondern auch Ideen zum Zusammenleben von Mann und Frau.

Text: David Steinitz

Der Film läuft am Donnerstag, 09.05.2013, 20 Uhr, Gasteig Vortragssaal, am Samstag, 11.05.2013, 16 Uhr, ARRI Kino und am Mittwoch, 15.05.2013, 18:30 Uhr, Staatliches Museum für Völkerkunde  

Dok fest München 2013

Quelle: Dok.fest/oh

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Wrong time wrong place

Ein Film über das Massaker von Utøya in Norwegen, der all die existenziellen Fragen stellt, die niemand beantworten kann. Warum haben gerade wir überlebt, zusammengekauert auf dem Boden der Toilette? Könnte meine Freundin noch hier sein, wenn sie nicht ohne mich in die Kantine gegangen wäre? Hätten wir nicht vor Jahren darauf bestehen müssen, dass unsere Tochter schwimmen lernt?

"Wrong time, wrong place" - zur falschen Zeit am falschen Ort, vielleicht ist da ja wirklich nicht mehr zu verstehen.

Eltern, Freunde, Überlebende quälen sich vor der Kamera des holländischen Dokumentar-Veteranen John Appel mit diesen Fragen, der Himmel über Utøya leuchtet stahlblau, friedlich tuckert ein Boot übers spiegelglatte Meer.

Die Erzählungen vom Tag des Horrors sind packend und tief bewegend, vor dem ungewöhnlich kühlen Blick auf Schicksal und Wahrscheinlichkeit, den der Titel suggeriert, scheut Appel dann doch zurück. Obwohl das nicht uninteressant gewesen wäre: Die Wahrscheinlichkeit etwa, am Tag des Massakers auf Utøya zu überleben, betrug exakt 88,2 Prozent.

Text: Tobias Kniebe

Der Film läuft am Sonntag, 12.05.2013, 20:30 Uhr, ARRI Kino und am Dienstag, 14.05.2013, 20:30 Uhr, Rio 1

Dok fest München 2013

Quelle: Dok.fest/oh

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Land des Schweigens und der Dunkelheit

Ein frühes Roadmovie von Werner Herzog, unterwegs mit der taubblinden Fini Straubinger, die in München lebt und mit ein paar Getreuen unermüdlich andere Betroffene in Bayern besucht, sie umarmt, anspricht, motiviert. Menschen, die ihr Gehör und ihre Sehkraft in der Jugend verloren und noch in Erinnerungen leben, wie Fini Straubinger, aber auch taubblind geborene, um Kontakt mit dem Außen mühsam kämpfende Kinder.

Berührende Szenen mit den Taubblinden im Botanischen Garten oder im Zoo, ein Rundflug über die Alpen. 1971 gedreht, ein Jahr bevor Herzog seinen ersten Welterfolg hatte, mit "Aguirre".

Das Festival zeigt einige schöne seltene Filme von ihm - "Lektionen in Finsternis", "Grizzly Man" - und hat in ihm einen emphatischen Dokfilm advocatus diaboli. Seine Filme zeigen, allesamt und ohne Unterschied, imaginäre Wirklichkeit, Visionen dokumentiert. Eine merkwürdige Verlorenheit, lost in transition.

Fini Straubinger erzählt von schwebenden Skispringern, aber es sind Sätze, die Herzog ihr, selbstverständlich, schrieb. Der erste Zwischentitel: "Es ist ein solches Erschrecken, wenn mich jemand berührt. Beim Warten vergehen die Jahre."

Text: Fritz Göttler

Der Film läuft am Freitag, 10.05.2013, 18:30 Uhr, Filmmuseum

Dok fest München 2013

Quelle: Dok.fest/oh

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Matthew's Laws

Die Regeln von Matthijs gelten nur in seinem eigenen Königreich . . . "Matthew's Laws" des niederländischen Filmemachers Marc Schmidt ist letztlich ein Film über das ohnmächtige Zuschauen.

Schmidt porträtiert seinen Kindheits-Freund Matthijs, der Autist ist und sich auf eine ganz besondere Art in sich selbst zurückzieht: Man kann mit ihm reden, aber man erreicht ihn nicht. Verrückt, das bedeutet ja vor allem, dass einer die Normen nicht erfüllt, sich selbst daraus hinausrückt. Man versteht jederzeit, warum Matthijs selbständig sein will, und genauso gut, warum man es ihm nicht gestattet.

Matthijs will unbedingt allein leben, will die Sozialarbeiterinnen, die ihn betreuen, nicht hereinlassen - und verwüstet derweil sein Apartment.

Er protokolliert jede Minute seines Daseins, vergibt kryptische Codes - vor allem aber schraubt er an Leitungen herum, gräbt Löcher in tragende Wände, bis es die Behörden irgendwann aus Sicherheitsgründen nicht mehr tolerieren. Er baut die Welt, die in seinem eigenen Kopf einen Sinn ergibt, den einzigen Sinn, den er versteht.

Text: Susan Vahabzadeh

Der Film läuft am Donnerstag, 9.05.2013, 15 Uhr, Filmmuseum, am Freitag, 10.05.2013, 22 Uhr, Gasteig Vortragssaal und am Dienstag, 14.05.2013, 21:30 Uhr, Rio 2

Dok fest München 2013

Quelle: Dok.fest/oh

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Moon Rider

Ein großes Radfahrtalent. Die ideale Physis, die ideale Größe. Wenn nur der Kopf nicht wäre. Dieses Denken im Kreis, es soll beim Rennradfahren doch immer geradeaus gehen . . .

Vier Jahre lang hat Daniel Dencik für seinen Debütfilm "Moon Rider" den dänischen Rennradfahrer Rasmus Quaade begleitet, der der beste Fahrer der Welt werden will und dafür bis in die Ohnmacht hinein trainiert, völlige Lebenseinsamkeit in Kauf nimmt und bei seiner Mutter wohnt, weil das Zeit spart.

Die meisten Sportfilme porträtieren ihre Helden von außen, als stringente Geschichte auf ein Rennen oder Finale zu, mit einordnenden Off-Kommentaren.

Dencik ist in formaler Hinsicht ähnlich radikal wie sein Protagonist, er hat ausschließlich mit Super 8 oder mit einer Helmkamera gedreht, so dicht wie möglich an seinem Helden, assoziativ und sprunghaft.

Den Grundrhythmus liefert Quaades Herzschlag, dunkel, pumpend und geduldig. Da ist es nur konsequent, dass es keinen Kommentar von außen gibt, nur Quaades Stimme aus dem Off, Sätze wie Gedichte, "Ich möchte so nah ans Sterben ran wie möglich", Sätze, die in ihrer Mischung aus ekstatischer Entgrenzung und unheimlicher Selbstvernichtungssehnsucht noch lange nachhallen.

Text: Alex Rühle

Der Film läuft am Freitag, 10.05.2013, 22 Uhr, Rio 2 und am Sonntag, 12.05.2013, 14:30, ARRI Kino

Dok fest München 2013

Quelle: Dok.fest/oh

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Das 28. Internationalen Dokumentarfilmfestival in München läuft vom 8. bis 15. Mai 2013. Informationen über das gesamte Programm und wie man an Eintrittskarten kommt, erhalten sie auf der Website www.dokfest-muenchen.de.

Bild aus dem Film "Beerland!", in dem es um die Deutschen und ihr Bier geht: Tradition, Gemütlichkeit oder Besäufnis? Ein Amerikaner begibt sich auf eine Spurensuche, die es ohne Klischees nicht gäbe, und die doch mit einigen aufräumt. Lustig und bierernst zugleich.

© SZ vom 8.5.2013/wib
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