DJ Hell:"Wenn ich da bin, geht's los"

Total krass. Der Wahnsinn. Porno-Style. München. Doch jenseits der 30 muss sich ein DJ regelmäßig dafür rechtfertigen, dass er noch nicht im Altersheim sitzt: Helmut Geier alias DJ Hell feiert eine Dekade Ausrasten mit Selbstbeherrschung.

Jochen Temsch

Dann ist es zwei Uhr morgens, und es knallt. Beats wie Paukenschläge. Schnell wie ein aufgeregtes Herz. Keine Melodie, nur ab und zu ein mechanisches Geräusch. Minimal. Hart. Jemand schreit. In den Gläsern kräuseln sich durchsichtige Flüssigkeiten. Tiefer Schalldruck auf den Unterleib. Abartig. Laut. DJ Hell beugt sich über die Plattenteller, wippt mit dem Oberkörper, verzieht keine Miene, abwesend vor Konzentration. An den Wänden flackern Projektionen: nackte Mädchen, Porno-Style.

Alles volle Kanne, total krass, von der ersten Sekunde an. Auch der DJ: weißes T-Shirt, nackenlange Haare, Stirnband - wie ein Tennisspieler aus den Achtzigern. Aufschlag Hell: kurz, nur ganz kurz einen Fetzen Melodie in den unfassbaren Brutalobeat gehauen, "Everything Counts" von Depeche Mode, und tausend Partygäste der "Bavarian Gigolo Nacht" im Münchner Club Ampere rasten aus. Mädchen steigen auf die Lautsprecher, Gläser fliegen, man tanzt bis zu den Knöcheln in Scherben. Sechs Stunden Hell, bis der Morgen graut. Der Wahnsinn. Mal wieder. Immer noch.

Seit mehr als 25 Jahren ist DJ Hell alias Helmut Geier im Euphoriegeschäft. Lange Vorspiele mag er nicht. "Wenn ich da bin, geht's los!", sagt er. Zum Interview in einem Café erscheint Hell in Jeans, T- Shirt, Samtjackett ohne sichtbare Markenlogos. Dazu trägt er eine Sonnenbrille mit Scheiben so groß wie CDs, Porschedesign, Vintage, ein sorgfältig ausgewähltes, jahrzehntealtes Modell. Die optische Botschaft: Geschmack und Coolness, Dezenz und dick Aufgetragenes gehen in selbstverständlicher Lässigkeit einher.

Jeder andere würde mit so einer Brille beknackt aussehen - sogar in München, wo man schon immer gerne mit Luxusgestellen auf der Nase im Cappuccino rührt. Hell nimmt das Ding nicht ab, dafür setzt er kein Lächeln auf. Er sagt Hallo - und dass er lieber draußen in der prallen Sonne sitzen will. Seine Haut ist gegerbt wie die eines Surfers. Dann ist er voll da, ganz konzentriert, er hat sich viel Zeit für dieses Gespräch genommen, antwortet sachlich und ausführlich. Jetzt geht es ums Geschäft.

Kakao und Schweinebraten

"Hell gehört zur ersten Generation von Spitzen-DJs, denen man beim Altern zuschauen kann. Bis in die neunziger Jahre galten Plattenaufleger als tanzfaule Eigenbrötler, die wahllos Musikwünsche von Partygästen entgegennahmen. Erst im Zuge der Technobewegung wurden sie zu Popstars mit eigenem Sound, Hit-Remixen, Plattenverlagen. Hells Label International Deejay Gigolo Records wird in diesem Jahr zehn, er selbst 45 Jahre alt.

Und während Rockmumien wie Mick Jagger ungefragt auf Bühnen rumgeistern, muss sich ein DJ jenseits der 30 regelmäßig rechtfertigen, dass er noch nicht im Altersheim auf Ibiza sitzt. Der Vorwurf der Vergreisung ist natürlich Quatsch, liegt aber auch im Szene-eigenen Anspruch der andauernden Selbstneuerfindung begründet. Dabei bedeutet Neuerfindung im Bereich der elektronischen Musik - verkürzt gesagt Techno - auch: Altes und Rares aufzuspüren und mit digitalen Techniken so zu interpretieren, dass es klingt wie noch nie gehört.

Dazu braucht es großes musikalisches Wissen, also durchaus ein reifes Alter, und deshalb sind Künstler wie Hell so erfolgreich, auch wenn sie die Väter derer sein könnten, die zu ihrer Musik die Nächte durchmachen. Hell sagt: "Ich bin Teil des Ganzen, tief verwurzelt, und ich weiß, dass das, was ich mache, von den Leuten verstanden wird. Es stellt sich nicht die Frage, ob ich noch gefragt bin, sondern: Wie überlebe ich das alles?"

Natürlich gibt es wie immer Leute, die in Internet-Foren nölen, wie eintönig Hells Bumm-Bumm sei, Spötter, die sagen, die Handtücher an seinem DJ-Pult würden auch immer flauschiger, und überhaupt Kritiker, denen so ein allwissender Hipster ganz einfach auf die Nerven geht. Sophisticated sind seine Haudrauf-Sets wirklich nicht gerade - aber die Schlange vor dem Club Ampere ist so lang wie eine Altöttinger Osterprozession. Hinterher gibt Hell dieser Nacht das Maximum auf seiner persönlichen, zehn Punkte umfassenden Party-Skala. "Das war der komplette Ausnahmezustand", sagt er, "kaum kontrollierbar." Eines seiner Lieblingsworte: "Unkontrollierbarkeit". Dabei ist er die Selbstkontrolle in Person. Einer, der die nächsten Schritte seiner Karriere immer genau abcheckt.

Lesen Sie weiter, wie Hell die Erwartungen gegen den Strich bürstet.

Hell: einer der bedeutendsten deutschen DJs, neben Leuten wie Paul van Dyk oder Sven Väth die Oberliga elektronischer Musik, mit bis zu fünfstelligen Gagen pro Nacht. Mehrmals im Jahr fliegt er um die Erde. Zwischen Buenos Aires, New York, Paris, Moskau und Tokio hat er alle nennenswerten Clubs und Festivals gerockt. Sein Einfluss auf die Musikszene gilt als groß. Das Achtzigerjahre-Revival hat Hell mit losgetreten. Die Kombination der Stile dieser Zeit ist seine Erkennungsmelodie: Synthesizer, Computer, Punk-Attitüde - Kälte, Wut, Nihilismus. Irgendwann hieß diese Musik Electroclash, und als das alle machten, überlegte sich Hell etwas anderes. "Wenn ich zweimal das Gleiche spiele, habe ich ein ungutes Gefühl", sagt er.

Hells Markenzeichen: Erwartungen gegen den Strich zu bürsten. Aktuelles Beispiel ist sein Sampler zum Gigolo-Jubiläum. Statt eines Best-of-Albums präsentiert er völlig unbekannte Künstler. Überraschung, Provokation und Risikobereitschaft sind Teil von Hells Kunstverständnis. So bleibt er in der kommerzkritischen Independent-Szene glaubwürdig.

Als Produzent hat er zig Clubhits auf den Markt geworfen und Szenegrößen wie Fischerspooner, Miss Kittin und Zombie Nation geformt. "Mit dem Sieger-Gen impfen", nennt er das ganz unbescheiden, wenn er ein junges Talent unter Vertrag nimmt. Er arbeitete mit den Pet Shop Boys, Grace Jones und P. Diddy zusammen, legte auf Partys von Playboy-Chef Hugh Hefner auf. Sein Gigolo-Image kultiviert er mit eher stilvollem statt wirklich protzigem Chichi: mit Anzügen, Sonnenbrillen und Sätzen wie: "Gigolo steht für Sex, Funk, Chaos und Glamour." Und Selbstbeherrschung, könnte er anfügen.

Er sitzt vor einer Apfelschorle, bodenständig, oberbayrisch

Neulich beim Fotoshooting für ein spanisches Magazin wollte Hell Andy Warhol sein. Mit Brille, Perücke und einem peitscheschwingenden Nacktmodell inszenierten sie ihn also als War-Hell. "Partys und gestylte Leute gehören zusammen", sagt er. Unter anderem legt er bei den großen Schauen von Donatella Versace und Dirk Schönberger auf. Zurzeit arbeitet er an einer eigenen Kollektion - Unterhosen. Hell will außerdem ein Buch herausbringen, Filme machen. Er kann sich vorstellen, sein Label frei nach Warhol zu einer Art New Yorker Factory auszubauen. Anders gesagt: Knallt er doch so langsam durch?

Niemals", sagt Hell. Jetzt lächelt er zum ersten Mal. Er sitzt vor einer Apfelschorle, und in diesem Moment ist Hell Helmut Josef Geier aus Altenmarkt im Chiemgau, bodenständig, oberbayerisch, ein Fußballfan mit Trainerlizenz, der den Kakao und Schweinebraten seiner Mutter schätzt. "Aber es gab Momente, da konnte ich körperlich nicht mehr.

Aus dummem Ehrgeiz und selbstzerstörerischem Impuls: Ich wollte wissen, wie weit ich gehen kann." Die Antwort erhielt er, als er nach einer durchgemachten Nacht aus Berlin nach München flog, um mit Kumpels zu kicken - und sich böse verletzte. Die Bandscheibe rebelliert auch schon wegen des ewigen gebückten Stehens. Gegen solche Verschleißerscheinungen geht Hell ins Fitness-Studio, bleibt klar im Kopf - keine Drogen, höchstens mal zwei Gläser Champagner. Auszeiten in Brasilien. Wenn er kann, fährt er in seine alte Heimat.

Dort beendete Helmut Geier mit 18 Jahren seine Lehre als Betriebsschlosser. Er ließ es in der legendären Landdisko Libella krachen, dann in München, New York und Berlin, wo er inzwischen seinen Firmensitz hat. Gigolo Records war zunächst ein reines Fachgeschäft für DJs, mit 12-Inch-Singles, die es sonst nirgends gab. Jeff Mills, einer der wichtigsten Techno-DJs der Welt, unterstützte Hell, indem er ihm gratis Aufnahmen zur Veröffentlichung überließ.

Schnell kamen internationale Hits. Zum Beispiel "Kernkraft 400" von Zombie Nation, einer Gruppe Münchner Techno-Freaks, die illegale Partys veranstalteten. Der Track schoss auf Platz zwei der britischen Charts. Da war zum ersten Mal alles außer Kontrolle. Hell kämpfte mit Juristen gegen Nachahmer in aller Welt - und Arnold Schwarzenegger, der wiederum Hell verklagte, weil der dessen Muskelsilhouette als Logo benutzte. Der Rest ist Nachtleben-Geschichte. Aber "Vom Plattenteller zum Millionär" kann sie wohl nicht überschrieben werden.

Vor drei Jahren rutschte Gigolo Records fast in die Insolvenz. Hell hatte mit dem Universal-Konzern kooperiert, die Vertriebsfirma des Musikriesen ging pleite. An den finanziellen Folgen würgt er noch heute. Er sagt: "Gegen die verbreitete Vorstellung, ich würde in einem Penthouse an der Copacabana wohnen, muss ich mich leider verwahren. Ich habe immer alles Geld ins Label gesteckt. Ich bin mein bester freier Mitarbeiter." Umso schärfer geißelt Hell manche Kollegen: "Sie verdienen wie Fußballprofis, aber es geht ihnen nur um die nächste Million auf dem Konto, nicht um Inhalte."

Hell geht es um mehr. Und wenn er das so sagt, ist klar: Jeden Moment kann's wieder knallen.

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