Serie: "Vater, Mutter, Firma":Die Letzten ihrer Art

Gunnar Schweizer und Jordi Arau führen in Dießen die traditionsreiche Zinngießerei ihrer Vorfahren fort

Von Christiane Bracht, Dießen

Wer hinauf zum Dießener Marienmünster schlendert, bleibt unwillkürlich vor dem historischen Häuschen an der Herrenstraße 17 stehen. Über dem Eingang hängt ein kunstvoll verziertes Schild, das neugierig macht, einzutreten. Im Inneren empfängt den Besucher eine verwunschen anmutende Welt voller Miniaturen aus Zinn. Winzig kleine, kunstvoll bemalte Soldaten marschieren in Schaukästen auf und ab, gefolgt von Husaren auf dem Pferd, eine Glasplatte tiefer ist die Schweizer Garde mit den bunten Uniformen zu Hause. Auch zahlreiche Oldtimer und Motorräder kann man bewundern, ebenso wie Nikoläuse, einen Oktoberfestzug und eine bayerische Prozession mit Pfarrer, Ministranten, Kommunionkindern, Blumenmädchen, feinen Herren und alten, frommen Mütterchen. Alle haben einen Rosenkranz in der Hand, so wie es sich auf dem Dorf eben gehört. "Die Prozession ist von 1914", erklärt Gunnar Schweizer. "Es ist das Erstlingswerk meiner Tante Anny. Sie war eine begnadete Gravurmeisterin. Die Prozession ist aber ihr bestes Stück geblieben."

Zinngießer Jordi Aarau, vormals Wilhelm Schweizer, für Wirtschaftsserie

Zu Jordi Araus Zinn-Figuren zählt etwa dieses tanzende Trachtlerpaar.

(Foto: Franz Xaver Fuchs)

Schweizer ist der Chef des Hauses. Der kleine rundliche Mann mit grauen Stoppelhaaren ist der vorerst Letzte, der die Familientradition des Zinngießerbetriebs von Babette Schweizer aufrecht hält und täglich am heißen Ofen sitzt, um Figuren zu gießen oder Schieferplatten zu gravieren. Sein Sohn beherrscht das Handwerk zwar auch, aber er kümmert sich lieber um den Verkauf im familieneigenen Laden in der Maxburgstraße in München oder auf dem Christkindlmarkt am Rathaus. Zinngießen ist eben kein Handwerk mehr mit großer Zukunft. Kunstvoll verzierte Teller, Kannen, Becher und auch Pokale sind aus der Mode gekommen. Wer diese Dinge erbt, bringt sie meist zum Einschmelzen. Das Einzige, was sich noch verkaufen lässt, sind Zinnfigürchen. Das große Geld kann man damit aber auch nicht verdienen, deshalb gibt es in Europa wohl nur noch etwa zehn Betriebe, wie den in Dießen.

Zinngießer Jordi Aarau, vormals Wilhelm Schweizer, für Wirtschaftsserie

Jordi Arau stellt eher moderne Figuren her.

(Foto: Franz Xaver Fuchs)

Gunnar Schweizer lebt vor allem von der fast 220 Jahre alten Tradition seines Unternehmens. Natürlich entwirft er auch neue Formen. So wollen manchmal Firmen wie etwa Ford zu Werbezwecken einen Oldtimer aus Zinn, oder die Motorradfreunde in Schleswig wünschen sich alle zwei Jahre ein neues Modell. Besonders beliebt sind jedoch die alten Formen, vor allem bei Sammlern. Und so stellt der 73-Jährige diese immer wieder neu her. Mehr als 5000 hat er zur Auswahl. Sie liegen aufgereiht auf langen Regalbrettern in einer dunklen Kammer hinter seiner Werkstatt.

Zinngießer Gunnar Schweizer für Wirtschaftsserie

Gunnar Schweizer hat viele historische Motive im Angebot.

(Foto: Franz Xaver Fuchs)

"Früher einmal haben hier bis zu 30 Personen gearbeitet", erzählt Schweizer. In drei Öfen schwamm geschmolzenes Zinn, heute brennt nur noch einer. Und dort, wo früher die übrigen Gießer, Dreher und Graveure arbeiteten, liegt heute nicht nur eine dicke Staubschicht. Überall ist Werkzeug zu finden, auch kleinere Maschinen, die nicht mehr gebraucht werden, stehen auf Werkbänken gestapelt oder auch auf dem Boden herum. Für Außenstehende herrscht ein völlig undurchdringliches Chaos. Man muss genau hinschauen, wo man hintritt. Schweizer gehört sicher nicht zu den Menschen, die Altes leichtfertig wegwerfen. Er lebt die Tradition seiner Vorfahren, und er ist stolz darauf.

Herstellung

Wer glaubt, dass die etwa daumengroßen Zinnfiguren schnell gemacht sind, täuscht sich gewaltig. Von der Idee bis zum fertig bemalten Produkt vergehen mehrere Wochen. Zunächst zeichnen die Graveure ihre Ideen mit Bleistift auf Papier. Erst wenn sie mit dem Entwurf zufrieden sind, pausen sie die feinen Linien auf zwei kleine Schieferplatten ab. Dann beginnt die eigentliche Arbeit: Mit einer Handvoll feiner Stichel in unterschiedlichen Stärken kratzen sie eine Negativform in den harten Stein. Die Motive müssen ganz exakt korrespondieren wie ein Spiegelbild: Nase auf Nase, Fuß auf Fuß, Haar auf Haar. Das Gravieren dauert je nachdem, wie komplex oder groß das Motiv ist, eine halbe Woche oder auch mal einen Monat. Für den Guss muss das Zinn auf bis zu 400 Grad erhitzt werden. Mit einem Löffel füllt der Gießer die silberne Flüssigkeit in ein Löchlein, das entsteht, wenn man die beiden Schieferplatten fest aufeinanderpresst. Nach etwa zehn Sekunden darf die Form geöffnet und der Rohling entnommen werden. Als nächstes müssen die dicken Zapfen entfernt werden, die beim Eingießen entstehen. Mit einem Messerchen schabt der Fachmann die Nahtstellen glatt. Missglückte Exemplare werden wieder eingeschmolzen. "Sammler bevorzugen die unbemalten Rohlinge", weiß Arau. Sie geben ihrem Exemplar selbst die besondere Note. Die anderen werden mit feinen Pinselstrichen von Malerinnen in Heimarbeit mit Emaillack, Öl- oder Acrylfarbe verziert. Neben der Herstellung neuer Figuren reparieren die beiden Betriebe auch alte Figuren und Platten. cb

Das merkt man auch in den Verkaufsräumen: Wer in das alte Haus eintritt, dessen Fundamente noch aus dem Jahr 1500 stammen, taucht praktisch in die Geschichte der Zinngießerei ein. Es ist wie ein kleines Museum. In jedem Raum sind Vitrinen. Links neben der Eingangstür hat Schweizer die ältesten Stücke der Manufaktur ausgestellt: Heiligenfiguren, Medaillen und Wallfahrtstafeln. Denn als sein Urahn Adam Schweizer Weihnachten 1796 den Betrieb gründete, ging es ausschließlich um Devotionalien. Er lieferte dem Handelsunternehmen "von Baab & von Schorn" anfangs nur Medaillen für die verschiedenen Wallfahrtsorte von Andechs bis Altötting, von Sankt Ottilien bis Wies, später sogar noch weiter. Die Händler gingen damit hausieren, und die Leute mehrmals im Jahr zum Wallfahren. "Es war ein Heiratsmarkt", weiß Schweizer. "Und die Leute liebten es, Andenken mit nach Hause zu nehmen. Gestandene Bauern bevorzugten natürlich silberne, die armen Leute dagegen kauften Medaillen aus Zinn. Es war ein schwunghafter Handel." Schweizer erzählt die Geschichte seiner Familie gern. Und weil diese sehr lang ist, hat er es sich auf dem großen Biedermeier-Sofa in seinem Zinncafé bequem gemacht. Dort hat er eine kleine Ecke so eingerichtet, als sei es ein altes Wohnzimmer. An den Wänden hängen die Ahnen: ein Scherenschnitt des Gründerpaares Monika und Adam Schweizer und sein Großvater bei der Jagd. Auf einem Tellerbord über dem Sofa sind die kunstvollsten Teller, Becher und Kannen ausgestellt, die die Familie seinerzeit gemacht hatte.

Die Familiengeschichte ist zweifelsohne eine Erfolgsstory: Die Schweizers haben immerhin als einzige unter vielen anderen Zinngießereien in Dießen und Umgebung überlebt. Doch es gab immer wieder schwierige Zeiten für das Gewerbe. So untersagte der Herzog 1789 den Handel mit Medaillen. Ein harter Schlag für die Familie. Man begann kleine Bilder aus Zinn zu fertigen, bis auch die verboten wurden. Daraufhin verlegten sich die Schweizers auf Altarspielzeuge: Winzige Kelche, Monstranzen, Kreuze und Kronen wurden hergestellt. So konnten die Kinder Pfarrer spielen, und weil nicht alle eine kirchliche Laufbahn anstrebten, erweiterte man das Sortiment schon bald um Soldaten. Um 1800, als der Brauch, Weihnachten einen Christbaum zu schmücken, nach Bayern kam, begannen die Zinngießer, Christbaumkugeln zu entwerfen. Das Warenhaus Manufactum will sie heuer neu auflegen.

Inzwischen gibt es fast nichts, was nicht auch in Miniatur zu haben wäre. Die Vitrinen an der Herrenstraße 17 sind voll mit bunt bemalten Zinnfiguren, vom Osterhasen bis zum Ammerseedampfer. Immer wieder kommen Leute herein und staunen: "Oh, wie zauberhaft." Die Frauen sind vor allem von den fein ausgearbeiteten Figürchen, aber auch von den fantasievollen oder historischen Motiven, die eine heile Welt spiegeln, begeistert. Die Männer schwärmen mehr für Oldtimer, Soldaten und die historische Feuerwehr.

Doch dem Dießen-Besucher bleibt nicht verborgen, dass es ein paar Häuser weiter unten an der Herrenstraße 7 einen zweiten Betrieb gibt: Wilhelm Schweizer. Ein stattliches Jugendstilhaus ebenfalls mit auffallend hübsch gestaltetem Türschild, auf dem eine bayerische Prozession aus Zinnfiguren entlangschreitet, macht auf die Zinngießerei aufmerksam. 1972 teilten die Schweizers das Unternehmen wegen familiärer Unstimmigkeiten. Der Onkel von Gunnar Schweizer wollte sich laut Vereinbarung auf Großzinn, also Teller, Kannen und Becher, spezialisieren. Doch nachdem die Nachfrage dafür immer geringer geworden war, verlegte sich auch dieser Betrieb auf Zinnfiguren. Gunnar Schweizers Schwager Jordi Arau entwirft und produziert seit etwa 30 Jahren moderne Motive. Mit viel Erfolg: Das kleine Unternehmen hat immerhin zehn Mitarbeiter. Bei Freunden von Dekorationsartikeln und auch Sammlern sind vor allem die Weihnachts- und Osterhasenkollektionen sehr beliebt. Und so verschickt er seine Produkte nicht nur zu Kunden in Deutschland, sondern auch nach Japan oder in die USA. Ob der 61-Jährige freilich einen Nachfolger findet für den Betrieb, ist noch offen. "Das entscheidet der Zufall", sagt er gelassen. Zwingen will er seine Kinder dazu jedenfalls nicht.

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