Die Münchner Weißwurst:"Du Königin im Wurstrevier"

Die original Münchner Weißwurst wird 150 Jahre alt. Oder vielleicht auch nicht. Sei's drum. Eine Laudatio

Wolfgang Görl

Gewiss gibt es raffiniertere lukullische Kreationen als die Münchner Weißwurst. Aber sie deshalb als "schrecklich unappetitlich in ihrer furchtbaren Haut" und darüber hinaus noch als "Albino-Pimmel" zu beschimpfen, wie es der kulinarische Großinquisitor Wolfram Siebeck getan hat, verstößt nicht nur gegen das Gebot, die kulturellen Eigenheiten fremder Völker zu achten, sondern offenbart auch eine gedankliche Schludrigkeit insofern, als dem so genannten Fresspapst allein die Oberfläche (Haut) wichtig erscheint, wohingegen ihm der Inhalt offenbar Wurst ist.

Wenn es hier gilt, eine Laudatio auf die Jubilarin zu formulieren - über ihr Alter wird noch zu sprechen sein -, dann sei vorsorglich angemerkt, dass nur Münchner über die Weißwurst zu urteilen und gebenenfalls zu meckern befugt sind, Auswärtige oder gar gebürtige Duisburger wie der Herr Siebeck aber in Demut hinzunehmen haben, dass es sich bei ihr noch vor der Polnischen oder der Salami um die bedeutendste aller Würste handelt.

So, das musste heraus, ehe es im engeren Sinne um die Wurst geht, die in diesem Fall, das lässt sich nicht verschweigen, durchaus umstritten ist. Selbst in München finden sich Menschen, die der Weißwurst äußerst kritisch gegenüberstehen und die behaupten, sie sei nichts anderes als der geglückte Versuch, Wasser schnittfest zu machen.

Ebenfalls verbreitet ist in diesen Kreisen die Meinung, die Weißwurst sei, wenn überhaupt, nur mit süßem Senf genießbar - ein Gedanke, der in seiner extremsten Ausformung darauf hinausläuft, den Senf als das Wesentliche zu betrachten, dem die Wurst als etwas Nachrangiges beigefügt wird, das allein dazu dient, den Verzehr der süß-sauren Substanz aus den Häusern Develey, Händlmaier et alii zu erleichtern.

Geburtsort: Eine Spelunke

Die Gegenseite wiederum hat die Weißwurst längst zu einem Regionalheiligtum erklärt, dem zu huldigen der Bavarica-Poet Herbert Schneider sogar eine Hymne verfasst hat, beginnend mit den Versen: "Du Königin im Wurstrevier/du schön gekurvte Tellerzier,/lass dir den weißen Hermelin/von deinen zarten Schultern ziehn!"

Siebecks 2furchtbare Haut" hat sich hier in einen weißen Hermelin verwandelt, und ungeachtet der Frage, ob man eine Wurst im Pelz wirklich verzehren möchte, manifestiert sich in der kühnen Metaphorik eine nahezu kultische Hingabe, die unter weniger besonnenen Weißwurst-Verehrern bereits zu Glaubenskriegen geführt hat.

Bis heute streiten die Wurstologen, ob allein die Technik des Auszuzelns erlaubt ist oder ob man der Weißwurst auch mit Messer und Gabel nähertreten darf. Sofern der Schein nicht trügt, ist das Auszuzeln, ein Saugverfahren ähnlich dem zur Erzeugung von Knutschflecken, zum Ärger der Fundamentalisten auf dem Rückzug, wohingegen der Verzehr mit Besteck zunehmend toleriert wird.

Dass es auch dabei verschiedene Methoden gibt, vom brutalen Längsschnitt bis hin zum artifiziellen Kreuzschnitt, der chirurgische Fertigkeiten erfordert, zeigt das Ausmaß der Bedeutung, die der Münchner der Weißwurst und ihrer Handhabung beimisst. Wenn es darum geht, das Brät von der Wursthaut zu trennen, erweist er sich als stilbewusster Zeitgenosse, der mit derselben Leidenschaft für die Etikette kämpft, wie man sie sonst nur bei Engländern oder Franzosen vermutet.

Wenn eine Sache derart ins Weltanschauliche, wenn nicht gar Metaphysische driftet, ist die Legenden- und Mythenbildung nicht fern. Der Schöpfungsmythos der Weißwurst ist allgemein bekannt, deshalb dürfte es genügen, ihn hier in groben Zügen vorzustellen.

Schweinsdärme waren auf Lager

Es begab sich am 22.Februar des Jahres 1857, dass der Bierwirt Sepp Moser im Gasthof "Zum Ewigen Licht" am Marienplatz zu früher Stunde Wasser aufsetzte, um seine beliebten Kalbsbratwürstel herzustellen. Moser rührte in gewohnter Manier das Brät an, während sich die Wirtschaft mit Frühschoppen-Gästen füllte, viele von ihnen noch ausgezehrt vom nächtlichen Faschingstreiben.

Als der Wirt die Masse in die Wursthaut pressen wollte, sah er sich mit einer bitteren Tatsache konfrontiert: Die zarten Schafssaitlinge, unentbehrlich für Mosers Bratwürste, waren ausgegangen, und Nachschub war an diesem Faschingssonntag nicht zu erwarten. Immerhin, Schweinsdärme hatte der Mann noch auf Lager, und er wäre ein schlechter Wirt gewesen, hätte er diese Chance nicht genutzt. Also füllte der Moser Sepp das Kalbsbrät in die Schweinssaitlinge und warf die Würste, die beträchtlich dicker waren als gewohnt, zum Abbrühen ins heiße Wasser.

Sie anschließend zu braten, ließ er vorsichtshalber bleiben. Stattdessen setzte Moser seinen Gästen die wulstigen Würste in einer Terrine vor, hoffend, dass sie gnädig aufgenommen würden. Und tatsächlich: Die morgendlichen Wurstesser waren nicht nur begeistert, sie hatten auch das Gefühl, bei einem historischen Ereignis dabei gewesen zu sein. In Mosers Wurstkessel, so der allgemeine Eindruck, war ein ganz neues Geschöpf entstanden, das in München und weit darüber hinaus seinesgleichen suchte.

Nun ist es mit Legenden, und seien sie noch so schön, in der Regel so, dass über kurz oder lang Skeptiker ihren Senf dazugeben, häufig mit dem Vorsatz, mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse alles in Frage zu stellen. Sogar unumstößliche Wahrheiten, wie beispielsweise jene, wonach der Earl of Sandwich die gleichnamige Brotspezialität erfunden habe, um gleichzeitig Karten spielen und essen zu können, werden von solchen Leuten bestritten.

"Zum ewigen Licht"

Besonders ärgerlich ist, dass diese Erbsenzähler oft recht haben. Tja, und leider müssen sich auch die härtesten Verfechter der Moser-Sage wohl mit dem Gedanken vertraut machen, dass deren Wahrheitsgehalt ebenso fragwürdig ist wie der Inhalt mancher Wurst.

Einer dieser Skeptiker ist der Publizist PeterM.Lill, dessen Buch ,,Mythos Weißwurst'' man zu den einschlägigen Standardwerken zählen darf. Lill vermutet, dass hinter dem Schöpfungsmythos der Weißwurst ein ausgebuffter Wirt steckt, der ein Gespür für wirksame Reklame hatte. Erst Ende 1935 sei die Moser-Legende in Umlauf gekommen, und zwar "rein zufällig", wie Lill ironisch anmerkt, in dem Augenblick, in dem die Wirtschaft nach einem Umbau wieder unter dem Namen "Zum Ewigen Licht" eröffnete, nachdem sie seit der Jahrhundertwende als Gaststätte "Zum Peterhof" firmiert hatte.

Und überhaupt könne die Geschichte schon deshalb nicht wahr sein, weil Sepp Moser - Lill beruft sich dabei auf Recherchen des Hausbesitzers - erst im Jahr 1860 seinen Dienst als Wirt im "Ewigen Licht" antrat, also drei Jahre, nachdem er dort angeblich die Weißwurst erfunden hat.

Neuerdings aber sieht es so aus, als hätten sich der Hausbesitzer und mit ihm der Weißwurst-Historiker Lill im Dunkel, das um das "Ewige Licht" herrscht, zeitweise verirrt. Jedenfalls hat Richard Bauer, der Leiter des Stadtarchivs, in den damaligen Meldeunterlagen herumgestöbert und dabei entdeckt, dass Moser die Wirtschaft am Marienplatz Hausnummer26 tatsächlich bereits 1857 als Pächter übernommen hatte. Der Wirtssohn Sepp Moser, geboren am 28. November 1821, hatte zunächst das Metzgerhandwerk gelernt, ehe er die kleine Gast- und Schankwirtschaft pachtete.

Das "Ewige Licht" verdankte seinen Namen dem Umstand, dass die Wirtschaft ewig künstlich beleuchtet werden musste, weil sie innerhalb der von keinem Sonnenstrahl beleuchteten "Finsteren Bögen" an der Südseite des Marienplatzes lag und zudem keine Fenster hatte. Der Gastraum war winzig, die Luft, vermutlich ein prekäres Gemisch aus Bierdunst, Tabaksqualm und Restsauerstoff, zum Schneiden, doch die Münchner, zumindest die kleinen Leute, die Droschkenkutscher und Tagelöhner, liebten solche Kaschemmen.

Eine Art Bockwurst?

Um die Jahrhundertwende aber, erzählt Bauer, "wurde das ,Ewige Licht' als höchst zweifelhafte Spelunke eingestuft und einmal sogar als ,Kuh- und Saustall' bei der Polizeidirektion denunziert". Aber da lag der Moser Sepp schon längst unter der Erde, zurückgekehrt in Abrahams Wurstkessel oder wohin auch immer, nachdem er bis 1866 das "Ewige Licht" führte und später einige andere Gaststätten.

Übrigens ist das "Ewige Licht" inzwischen zum Bistro, "Am Marienplatz" mutiert, das, ungeachtet der großformatigen Inschrift "Geburtsstätte der Weißwurst", mit einem Altmünchner Wirtshaus ebenso viel zu tun hat wie der Leberkäs mit Leber und Käse.

Nur eine Art Bockwurst? Also doch? Sepp Moser der Erfinder der Weißwurst? Die Lebensdaten würden passen. Als Metzger hätte er auch über das Handwerkszeug verfügt, so eine Jahrhundertkreation in die Welt zu setzen - und doch: es gibt Zweifel. Gravierende Zweifel. Sie laufen auf das Paradoxon hinaus, Moser habe eine Wurst erfunden, die es in München längst gab.

Um die furchtbare Wahrheit mit den Worten des Stadtarchivars Bauer zu sagen: "Die Münchner Weißwurst kann nicht als eigenständige Neuschöpfung oder als eine aus der Not geborene Vergrößerung der Bratwurst angesehen werden, sondern sie ist lediglich eine Variante der Altmünchner ,Bockwurst', die einst zum Maibock serviert wurde."

Wie? Ein Bockwurst? Gottlob, es handelt sich dabei nicht um die gleichnamige Kirmes-Wurst im King-Size-Format, die - horrible dictu - vermutlich Berliner Wurstküchen entstammt. Nein, die Münchner Bockwurst, die man zum Starkbier reichte, um dessen dramatische Wirkung hinauszuzögern, war ein Gemenge aus Kalbs-, Schweinsbrät und Grünzeug, abgefüllt in Schweinsdärmen und in heißem Wasser gebrüht. Folglich gleicht sie in nicht geringem Maße der heutigen Weißwurst, oder besser besagt: einer Weißwurst, hergestellt von einem schlampigen Metzger, der es mit dem amtlichen Rezept nicht so genau nimmt.

Wenn Moser also überhaupt etwas zur Schöpfung der Weißwurst beigetragen hat, dann hat er sie saftiger, bekömmlicher, ja vielleicht sogar würziger gemacht, indem er das Brät, womöglich in zweifelhafter Absicht, etwas streckte. Keineswegs darf der Vorgang als "creatio ex nihilo", als Schöpfung aus dem Nichts, verstanden werden. Der Moser Sepp hat, mit Bauer zu reden, lediglich die ,,Bockwurst light'' erfunden.

Napoleon und Nackenspeck

Doch es kommt noch schlimmer: Nicht mal die besagte Maibockwurst ist eine Münchner Erfindung, sondern sie ist den Wurstologen zufolge die Variante einer Wurstsorte, die schon Jahrhunderte vor Moser in zahllosen Spielarten durch Europa geisterte. Peter M.Lill erwähnt in seinem Buch eine Rezeptur aus dem 14.Jahrhundert, die in dem französischen Kochklassiker "Menagier de Paris" steht.

Wer nach diesem Rezept die "Boudin" genannte Wurst fabriziert, hat am Ende eine Münchner Weißwurst, der lediglich der Nackenspeck fehlt. Sofern die Boudin blanc nicht schon vorher die Stadtmauern überwunden hatte, ist sie vermutlich Anfang des 19.Jahrhunderts im Gefolge Napoleons nach München gelangt. In diesem Fall würde Bayern dem Empereur nicht nur die Erhebung zum Königreich verdanken, sondern auch die Einbürgerung der Weißwurst.

Soweit die historischen Fakten, die zwar ein wenig ernüchtern sein mögen, aber den echten Verehrer der Weißwurst kaum kratzen werden. Selbiger pflegt ein romantisches Verhältnis zu seiner Lieblingswurst, da geht es um große Gefühle, denen weder penibel recherchierende Wurstforscher noch Küchendogmatiker wie Wolfram Siebeck etwas anhaben können. Wer mit der Weißwurst sozusagen aufgewachsen ist, der wird mit ihrem Geschmack mehr verbinden als nur die aromatische Summe ihrer Zutaten.

Dem wird es - wenn der Vergleich erlaubt ist - gelegentlich so gehen wie dem Erzähler in Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", dem allerlei Vergessenes und Wundersames aus Kindheitstagen in den Sinn kommt, als er den Geschmack eines Madeleine-Törtchens auf der Zunge spürt. Zwar mag französisches Gebäck unter Umständen charmantere Erinnerungen hervorlocken, aber auch eine Wurst kann da einiges leisten.

Der entsprechende Effekt der Weißwurst lässt sich am besten beobachten, wenn man gebürtige Münchner besucht, die irgendein schreckliches Schicksal in die Fremde verschlagen hat. Als Mitbringsel wünschen sie, sofern das kühltechnisch möglich ist, mit Vorliebe Weißbier, Weißwürste, Brezn und süßen Senf.

Schon nach dem ersten Bissen zeichnet sich Verzückung in ihrem Gesicht ab, die dann allmählich in Wehmut hinübergleitet, und vor dem geistigen Auge, so jedenfalls behaupten sie, taucht all das auf, was die Bedauernswerten im Exil vermissen: die Frauentürme, die Isar, laue Sommerabende im Biergarten, rustikale Kellnerinnen mit Domina-Qualitäten, der Föhn, die schönen Frauen, die wie auf einem endlosen Laufsteg durch die Stadt stöckeln, die Männer, die als Erfolgstyp posieren und im nächsten Moment in Selbstmitleid verfallen, ja überhaupt diese einzigartige Mischung aus Lebenslust und Grant. München eben.

Kein Drei-Sterne-Menü kann solche Assoziationen hervorrufen. Aber die Weißwurst vermag's, deshalb darf man ruhig darüber hinwegsehen, dass ihr Erfinder sie gar nicht erfunden hat. Jenseits der historischen Wahrheit gibt es eine höhere Wahrheit, oder, wie wir Medienleute zu sagen pflegen: "The Weißwurst is bigger than life." Deshalb geht es vollkommen in Ordnung, wenn München am 22. Februar 2007 den 150.Jahrestag ihrer Erfindung begeht. Jedes andere Datum wäre genauso falsch.

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