Dick sein:Die Ex-Ballerina, die Tanzkurse für Dicke anbieten will

Dick sein: Das eigene Gewicht, für Candida Kraus ein Lebensthema. Jetzt will sie Tanzkurse anbieten - nur für Dicke.

Das eigene Gewicht, für Candida Kraus ein Lebensthema. Jetzt will sie Tanzkurse anbieten - nur für Dicke.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Candida Kraus kennt alle Extreme. Sie wog mal 47, mal mehr als 100 Kilo. Heute sagt die ehemalige Ballerina: Ich esse normal. Was nicht heißen soll, dass sich das mit dem Gewichtsproblem erledigt hätte.

Von Pia Ratzesberger

Sie blickt zu den anderen Tänzerinnen. Beine gespreizt, Arme nach vorne, die Köpfe zu Boden gedrückt. Sie blickt in den Spiegel, mustert ihre Beine, ihre Arme. Dreht die Hüfte. Kontrollblick. Immer noch dünner als die anderen, denkt Candida Kraus, immer noch dünner. Gewicht: 47 Kilo. Größe: 1,69 Meter. Sie stellt den rechten Fuß vor den anderen, fünfte Position, streckt die Arme über den Kopf, hebt das rechte Bein, fast senkrecht nach oben, die Hand stützt. Développé à la Seconde.

Heute geht die Figur nicht mehr. 32 Jahre später. Gewicht: 95 Kilo.

Sie spreizt die Beine, drückt den Kopf zu Boden, doch da ist der Bauch, zwischen ihr und dem Boden. Candida Kraus, 45 Jahre alt, Body Mass Index 33,3. Kein Übergewicht, sondern Adipositas. Fettleibigkeit. Sie wollte nie mehr als 50 Kilo wiegen, damals vor dem Spiegel. Sie hungerte und sie fraß, immer im Wechsel, so viele Jahre. Sie beschloss: Ich will mein normales Gewicht finden, ich will normal essen. Aber sie kann bis heute nicht so richtig glauben, dass 95 Kilo das normale Gewicht sein sollen. Bald will sie Tanzkurse anbieten, in München. Nur für Dicke.

Sie hat lange gebraucht für diese drei Worte, ringt noch immer mit ihnen: Ich bin dick. Sie könnte so tanzen wie damals vor 32 Jahren, mit den 47 Kilo, Développé à la Seconde, sie wäre noch genauso beweglich. Aber wenn sie ihr rechtes Bein streckt, blockiert das Fettgewebe. Vom Schenkel, von der Hüfte. 170 Grad schafft sie nicht, vielleicht 90. Sie müsste lügen, wenn sie behaupten würde, sie wollte nicht mehr dünn sein. "Es ist ziemlich schwer, sich zu mögen, wenn alle anderen einen scheiße finden". Vor allem, wenn die auch noch meinen, man sei selbst schuld.

Wie uns Fett das Leben schwer macht

Fett ist ein Grundbaustein unserer täglichen Ernährung. Zu viel Fett ist ungesund, zu wenig ist es aber auch. Ein Schwerpunkt zu Fastfood, Speckrollen und Avocados. Alle Texte finden Sie hier.

Dicke seien selbst schuld, gibt jeder dritte in Umfragen an, mal jeder zweite, immer das gleiche Ergebnis: Die Dicken sind die Schwachen. Die Trägen. Die Gescheiterten. Sie sagt: Ich bin nicht schuld an meinem Gewicht. Nicht mehr. Ballett, Yoga, Schwimmen, drei bis viermal die Woche Sport. Keine Fertigprodukte, alles selbst gekocht, selbst die Gemüsebrühe. Dreimal am Tag essen. Normale Portionen, sagt sie. Sie kennt die Extreme.

"Ihr seid alle zu dick"

Früher an der Ballettakademie, mit 14: sechs Tage Training, auch am Samstag. Die Mädchen dort aßen kaum, aber redeten umso mehr über das Essen, das sie nicht aßen. Sie prahlten, heute habe ich einen ganzen Hefezopf geschafft. Sie sagt: Meistens stimmte das nicht. Wenn doch, gingen die anderen danach auf Toilette, sich übergeben. Auch sie kniete sich mit einer Freundin vor die Kloschüssel, sie steckten sich den Finger in den Rachen, eher aus Spaß, der Magen leerte sich nicht. Mir blieb nur das Hungern, sagt sie.

Ein Apfel zum Frühstück, am Mittag ein Becher Joghurt, am Abend drei Tomaten und Hähnchenfleisch, angebraten in Wasser. Die Grenze: 50 Kilo. Die Direktorin baute sich einmal vor ihnen auf und sagte: Ihr seid alle zu dick. Wenn ihr Balletttänzerin werden wollt, bleibt euch nichts anderes übrig. Ihr esst eben nichts. Candida Kraus aß eben nichts.

Dann die Verletzung an der Achillessehne, sie bald 18 Jahre alt. Sie blieb zu Hause, aß und trainierte nicht. Die Nadel auf der Waage sprang auf 52 Kilo. Auf 53 Kilo. Für andere wäre das vielleicht ein kleiner Stich. Nicht mehr als ein Vorsatz, nichts Süßes in der nächsten Woche. Sie verlor ihre Rolle, ihren Tanz zu einer Cellosuite von Johann Sebastian Bach. Im Bus, auf dem Weg zum Auftritt, sagte die Lehrerin: Du weißt doch, dass du zu dick bist. Schau doch mal, wie du aussiehst in dem weißen Kostüm, neben den anderen, das willst du nicht. Candida Kraus sagte: Tut mir leid. (Gewicht: 53 Kilo. Body Mass Index 18,6. Normalgewicht). Dick sein ist subjektiv.

"Egal, wie viel ich gewogen habe, ich fühlte mich immer dick"

Dann der Mai 1989, sie 18 Jahre alt, sie wollte wieder ins Training, Beginn neun Uhr. An der Wand im langen Gang die neuen Besetzungspläne, Candida Kraus suchte ihren Namen. Ein Ensemblestück war geplant, sie war zu der Zeit schon Studentin. Sie fand ihren Namen nicht. Sie dachte: Wo stehe ich? Sie las Zeile für Zeile, Candida Kraus, irgendwo muss dieser verdammte Name stehen. Sie existierte nicht mehr, auf diesem Plan. Dicke sind oft die Außenseiter, erst im Klassenzimmer, später im Büro, im Fußballverein. Im Ballett sowieso.

Sie drehte sich um, lief den Gang hinaus, meldete sich an einem Münchner Gymnasium an, noch am gleichen Tag. Sie suchte sich einen Job in einer Kneipe, eine Woche später die erste Schicht. Sie dachte: Jetzt kann ich essen, was ich will. Sie aß Kekse mit Gelee gefüllt, mit Schokolade überzogen, Müsliriegel, eine ganze Packung. Sie dachte: Mehr als 54 oder 60 Kilo werde ich nie wiegen. Ihr Körper dachte: endlich Essen. Vier Monate später waren es 78 Kilo. 18 Kilo mehr als sie dachte. BMI 27,3, Übergewicht. Die Gäste in der Kneipe sagten: Du bist aber ganz schön drall geworden. Sie dachte: Ich bin dick geworden.

Die Statistik sagt, übergewichtig ist jeder Zweite in diesem Land, stark übergewichtig sind 17 Prozent aller Männer, 14 Prozent aller Frauen. Die Minderheit. Das Ideal der Mehrheit, trotz allem: dünn sein, als Frau am besten noch mit Tigh Gap, mit Lücke zwischen den Oberschenkeln. In den USA wehren sich Dicke gegen das Diktat, im Fat Acceptance Movement, eine Bewegung, die sagt: Dick sein muss okay sein.

Deutschland hat nur ein paar Initiativen, die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung, den Verein für die Akzeptanz dicker Menschen, kurz Dicke e.V. - letzterer stellt seine Arbeit bald ein: "Unsere Idee, ein kritisches Angebot gegen den Schlankheitswahn zu schaffen, ist nicht ganz aufgegangen", steht auf der Webseite. Auf dem Blog von Candida Kraus steht: "Viel essen, viel zunehmen, hungern, alles wieder abnehmen. Egal wie viel ich gewogen habe, ich fühlte mich immer dick."

Sie und ihr Magen, sie funktionierten nicht zusammen

Sie hungerte und sie fraß, Abitur, Lehre, Studium. Mal 800 Kalorien am Tag, mal Metabolic Balance, mal zwei Packungen Süßes, mal drei Teller Pasta, nächste Diät. Jede eine Verheißung. Sie hungerte sich mit 31 Jahren auf 50 Kilo hinunter. Sie aß so viel in der ersten Schwangerschaft, dass der Arzt sagte: "So eine große Gewichtszunahme habe ich noch nie gesehen." Sie wog mehr als 100 Kilo, sie weinte. Sie stellte sich nicht mehr auf die Waage. Sie und ihr Magen, sie funktionierten nicht zusammen.

Ihre Mutter sagte: Wenn ich satt bin, höre ich auf zu essen. Sie dachte: Ich bin satt, aber ich höre nicht auf zu essen. Nach der vierten Schwangerschaft, vor der fünften Schwangerschaft, wollte sie nicht mehr. Keine 800 Kalorien am Tag, kein Metabolic Balance. Keine zwei Packungen Süßes, keine drei Teller Pasta, keine nächste Diät. Frühjahr 2010. Sie suchte sich eine psychotherapeutische Gruppe, für mehrere Jahre. Sie lernte, was Hunger bedeutet, was satt sein. Sie aßen gemeinsam.

Sie sagte: ich bin satt. Sie weinte

An einem dieser Tage ein Buffet, die Therapeutin schlug den Gong, jeder musste sagen, wie satt er sei, eine Skala von eins bis zehn. Sie nahm sich drei Kartoffelspalten, es sollte noch Platz für den Nachtisch sein. Sie aß die drei Stücke, stand auf, ging zum Buffet und sie wusste: Verdammt, ich bin satt. Frühjahr 2012. Sie wollte den Nachtisch nicht hergeben, sie wollte lügen, wollte sagen: ich fühle mich erst bei fünf von zehn Punkten, doch sie wusste, es geht nicht mehr. Sie sagte: Ich bin satt. Sie weinte. Sie kennt die Extreme.

Sie macht eine Ausbildung zur Tanztherapeutin, sie wiegt 95 Kilo, stabil. Sie isst dreimal am Tag, normale Portionen, sagt sie. Sie weiß noch nicht, ob die 95 Kilo normal sind, ob sie das sein sollen. Aber das ist ihre Entscheidung, nicht die der anderen. Sie spreizt die Beine, drückt den Kopf zu Boden, doch da ist der Bauch, zwischen ihr und dem Boden. Sie bietet bald einen Tanzkurs an. Nur für Dicke.

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