Das Wesen einer Stadt:So ticken die Münchner

Sie rebellieren gegen hohe Mieten, verschlafen einen Trend nach dem anderen und sind zum Verlierertypen verkommen: So ticken die Münchner 2011. Die Ergründung des Wesens einer Stadt.

Lisa Sonnabend

11 Bilder

Treppenhaus in München, 2010

Quelle: Alessandra Schellnegger

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Sie rebellieren gegen hohe Mieten, verschlafen einen Trend nach dem anderen und sind zum Verlierertypen verkommen: So ticken die Münchner 2011. Die Ergründung des Wesens einer Stadt.

Der Münchner - ein Rebell

So wie die Bierpreise auf dem Oktoberfest steigen auch die Mieten in München jedes Jahr verlässlich. Die Bewohner der Stadt nahmen dies stets ohne großes Murren hin - bis zum Jahr 2011. Denn plötzlich gehen die Münchner auf die Barrikaden, um gegen hohe Mieten und Luxussanierung zu protestieren. Gentrifzierung ist ein Wort geworden, das in München bereits Kindergartenkinder fehlerfrei aussprechen können. Als bekannt wurde, dass an der Münchner Freiheit die Kultkneipe Schwabinger 7 und das Kino Monopol einem Neubau weichen müssen, protestierten die München gegen die Umgestaltung der Feilitzschstraße. Und auch in Untergiesing sind die Bürger bereits auf die Straße gegangen, um gegen Luxussanierungen in ihrem Viertel zu demonstrieren. Der Münchner ist zum Wutbürger geworden.

Musikliebhaber in der Münchner Philharmonie, 2011

Quelle: Alessandra Schellnegger

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Der Münchner - ein Diskutant

Der Münchner ist eher gemütlichen Gemüts. Im Sommer sitzt er an der Isar oder im Biergarten, eine Halbe Bier oder eine Maß vor sich und genießt das Leben. Nicht so im Sommer 2011. Denn da zeigt sich der Münchner von seiner hitzigen Seite. Abend für Abend - ist dieser noch so lau - ereifert er sich über die sogenannte Konzertsaalfrage. Dass München einen neuen Konzertsaal braucht, da die Philharmonie im Gasteig nichts tauge, steht für ihn außer Frage. Aber wo soll dieser neue Hort des perfekten Musikerlebnisses stehen? Im Areal der Bayerischen Landesbank oder gar an der Isar? Potentielle Standorte gibt es mehr als Bierzelte auf dem Oktoberfest. Über eines diskutieren die Münchner im Sommer 2011 jedoch wenig: Was darf so ein Bau kosten und wo sollen die Mittel überhaupt herkommen?

1860 Muenchen v Energie Cottbus - 2. Bundesliga

Quelle: Bongarts/Getty Images

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Der Münchner - ein heimatloser Fußballfan

Zwei Seelen wohnen, ach, in der Fußballbrust der Münchner - zumindest bis zum Jahr 2011. Die eine gute Hälfte schwärmt für den unbesiegbaren FC Bayern, die andere für den TSV 1860 München, den Arbeiterverein aus Giesing, der von einem Chaos ins nächste schliddert. Doch plötzlich ist diese Einteilung nicht mehr so klar. Der FC Bayern verliert fast genauso oft, wie er gewinnt, und stellt mindestens genauso oft neue Trainer ein wie der Lokalrivale aus Giesing. Und der TSV 1860 ruft bei seinen Fans plötzlich ganz unbekannte Gefühle hervor: Eben noch schrammte der Verein an der Insolvenz vorbei, doch nun hat der jordanische Geschäftsmann Hasan Abdullah Ismaik, der von vielen Fans einfach "der Scheich" genannt wird, Millionen in den Verein gepumpt. Die Münchner Fußballfans drohen ihre Identität zu verlieren.

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Quelle: Alessandra Schellnegger

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Der Münchner - ein Trendverschlafer

Die Münchner machen jeden Trend mit - allerdings lassen sie sich mit dem Aufspringen auf den neuen Zug meist einige Monate Zeit. So nuckelt der Münchner im Jahr 2011 immer noch an seinem Sprizz und kommt sich ganz up to date vor, während der Rest der Welt längst Hugo, Prosecco mit Holundersirup, trinkt. Seit einigen Wochen ist der Münchner zudem ganz aus dem Häuschen, weil der erste Frozen-Yogurt-Laden der Stadt eröffnet hat, während in Berlin schon eine ganzer Industriezweig von dem Verkauf des Desserts lebt. Und dann gibt es natürlich noch die Nerd-Brillen - die trägt der Münchner erst, seit die Hipster in New York bereits wieder vom Aussterben bedroht sind und durch neue Modetrends ersetzt werden.

Frau mit Kinderwagen und Hund, 2009

Quelle: lok

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Der Münchner - ein Bewohner mit Kinderwunsch

Erst wurde jahrelang geklagt, dass die Münchner zu wenige Kinder bekommen. Nun haben die Bewohner der Stadt dies beherzigt und nachgelegt. Manche sprechen inzwischen gar von einem Babyboom. Doch was passiert jetzt? Das Jammern geht erst richtig los. Manche Münchner wollen nicht, dann neben ihrer Wohnung ein Kindergarten gebaut wird, und mancher Cafébesitzer hat gar ein Kinderwagen-Verbotsschild vor die Eingangstür gehängt. Und die Eltern? Die suchen währenddessen fieberhaft nach einem Krippenplatz - meistens erfolglos.

xcess münchen

Quelle: Benjamin Krischke

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Der Münchner - ein konservativer Feiergeist

Seit über zwei Jahrzehnten regiert im Münchner Rathaus nicht die CSU, sondern Rot-Grün, das Mia-san-Mia-Gefühl lässt Raum für jeden - und sei dieser auch noch so g'spinnert. Der Münchner gilt gemein für bayerische Verhältnisse als extrem fortschrittlich und gar nicht so konservativ. Doch ausgerechnet im Nachtleben setzt der Münchner im Jahre 2011 alles daran, um Traditionen zu bewahren. Er kämpft für den Erhalt bedrohter Locations, für neue Restaurants oder Clubs interessiert er sich dagegen wenig.

Nachdem die unkonventionelle Absturzkneipe X-Cess im Glockenbachviertel wegen Anwohnerbeschwerden schließen musste, protestierte er - bzw. zumindest mehrere tausend Münchner - so anhaltend laut auf Facebook, bis Wirt Isi im Mai sein neues X-Cess in der Sonnenstraße eröffnete. Als im Frühjahr bekannt wurde, dass die legendäre Kneipe Schwabinger 7 abgerissen werden soll, machten sich die Münchner mehrmals auf, um vor der aus Kriegsschutt erbauten Baracke in der Feilitzschstraße zu protestieren. Allerdings schlussendlich erfolglos. Ein Sieg blieb auch denjenigen Münchnern verwehrt, die sich  für den Erhalt des Biergartens Grüntal in Bogenhausen einsetzten. 250 Münchner hatten Geld gespendet - doch am Ende fehlten 600.000 Euro für eine Rettung.

'Oper für alle' in München

Quelle: dpa

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Der Münchner - ein Kulturpessimist

Christian Thielemann, Chefdirigent der Philharmoniker, geht nach Dresden, Kent Nagano, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, hat seinen Vertrag nicht verlängert, Chris Dercon, Leiter des Haus der Kunst, wechselt zur Tate Modern in London, und Residenztheater-Intendant Dieter Dorn hat sich, nachdem er 35 Jahre das Theater der Stadt geprägt hat, zurückgezogen. Und der Münchner? Der fürchtet um den Ruf seiner Stadt. Verkommt München - bislang als Pflaster der Hochkultur gerühmt - zu einem Ort der Mittelmäßigkeit? Der Münchner im Jahr 2011 rechnet jedenfalls mit dem Schlimmsten: dem Kulturverfall.

Gemüsestand auf dem Münchner Viktualienmarkt, 2011

Quelle: Robert Haas

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Der Münchner - ein seelenloses Wesen

Der Viktualienmarkt, das Herz der Stadt, ist in Gefahr. Laut einer TÜV-Studie genügen die Stände nicht den Hygiene- und Brandschutzvorschriften und müssen deswegen womöglich bald abgerissen werden. Der Viktualienmarkt würde dann nicht mehr als typisch Münchnerischer, sondern als genormter und geregelter Markt wiederauferstehen. In der Stadt wird derzeit nicht mehr über die hohen Preise auf dem Markt gejammert, sondern darüber, dass das Wahrzeichen der Stadt sein Gesicht verändern könnte - und die Münchner ihrer Seele beraubt werden. Eine Stadt ohne Herz, Bewohner ohne Seele? München könnte sich gehörig verändern.

Geltendorf: Verlege-Maschine für DSL-Kabel

Quelle: Johannes Simon

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Der Münchner - ein Grantler vor dem Herrn

Der Münchner ist ein Grantler, das ist nichts Neues. Er kann sich über das Wetter, die Preise auf dem Viktualienmarkt oder die Preußn aufregen. Doch das Schimpfen hat im Jahr 2011 eine neue Dimension erreicht. Der Grund trägt 14 Buchstaben: Glasfaserkabel. Die Stadtwerke buddeln nach und nach die Bürgersteige und Straßen der Stadt auf, um eine schnellere Datenautobahn zu ermöglichen. Die Folge: Fußgänger laufen Slalom um die Baustellen, Autofahrer suchen stundenlang nach freien Parkplätzen im Viertel, da die Baustellen weiträumig abgesperrt sind. Die schlechte Nachricht: Der Ausbau dauert noch bis 2014, die Parkplatzsuche geht also weiter - und das Geschrei der Münchner bleibt wohl groß.

Muenchen: Jubilaeum 100 Jahre Tierpark Hellabrunn

Quelle: JOHANNES SIMON

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Der Münchner - ein uneitler Beobachter

In München geht es gewöhnlich ums Sehen- und Gesehenwerden - ob beim Einkaufen auf der Maximilianstraße, beim Flanieren auf der Leopoldstraße oder beim Abendausklingen auf dem Gärtnerplatz. Im Jahr 2011 allerdings legen viele Münchner nicht mehr viel wert aufs Gesehenwerden, sondern wollen nur noch sehen - und zwar einen: Elefantenbaby Ludwig. Nach dem tragischen Tod von Elefantenkind Jamuna Toni im vergangenen Jahr, hat der Tierpark Hellabrunn erneut Nachwuchs bei den Rüsselträgern bekommen. Die großen und kleinen Münchner sind verrückt nach Ludwig, an den Wochenenden geht es im Zoo zu wie in einem Ameisenhaufen.

Olympische Winterspiele 2018 in Suedkorea

Quelle: dapd

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Der Münchner - ein Verlierertyp

München ist die sicherste, kauffreudigste, teuerste und für viele auch schönste Stadt des Landes, des Kontinents und der Welt. Ranglisten führt die Stadt in der Regel an, ein Platz zwei ist eine Enttäuschung. Um so größer war die Enttäuschung, als das Magazin Monocle im Juni die Liste der lebenswertesten Städte der Welt veröffentlichte. 2010 hatte München gewonnen, in diesem Jahr nur Platz vier - hinter Helsinki, Zürich und Kopenhagen. Kaum zwei Wochen später folgte eine erneute Niederlage: Die Olympischen Spiele 2018 werden nicht in München sondern in Pyeongchang stattfinden. Das Ergebnis (25 zu 63) war so eindeutig, dass Männer in Tracht und Kati Witt die Tränen nicht zurückhalten konnten. Die Münchner haben im Jahr 2011 gelernt, mit Niederlagen umzugehen.

© sueddeutsche.de
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