Zivilcourage:Ein Unbeugsamer

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Richter Jan-Robert von Renesse erhält den Zivilcourage-Preis

Von Helmut Zeller, Dachau

Auch der Dachau-Preis für Zivilcourage kann die Stunden der Verzweiflung, vielleicht auch der Angst nicht aufwiegen, die der Sozialrichter Jan-Robert Renesse aus Nordrhein-Westfalen in den zurückliegenden Jahren immer wieder empfunden haben muss. Aber der Preis der Stadt Dachau, der alle zwei Jahre vergeben wird, ist eine Anerkennung für einen Unbeugsamen, der seine Karriere hintanstellte, weil er als Richter Wahrheit und Gerechtigkeit höher einschätzte.

Der heute 51 Jahre alte Jan-Robert von Renesse begann seinen Kampf um die Bewilligung von Ghettorenten für Holocaust-Überlebende mit 39 Jahren. 2002 hatte der Bundestag ein entsprechendes Gesetz beschlossen - doch die Rentenbürokratie lehnte 93 Prozent der etwa 88 000 Anträge ab und verschleppte in geheimer Absprache mit der Justiz die Klagen dagegen. Nicht jedoch Renesse, der sich bei der Urteilsfindung nicht auf hanebüchene Begründungen, gar auf Naziakten und für die Kläger unverständliche Formulare stützte, wie das seine Kollegen am Sozialgericht machten.

Renesse brach mit deren Praxis, reiste viele Male nach Israel, um die Überlebenden zu befragen. Der Richter suchte auch die Hilfe von Historikern, darunter den Dachauer Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte in München, die Archive durchsuchten und Quellen erforschten. Jan-Robert von Renesse gab den Klägern in 60 Prozent seiner Fälle Recht. Zudem prangerte er die unmenschliche Praxis an. Renesse wurde von den Fällen abgezogen, von Kollegen gemobbt und musste weitere berufliche Nachteile in Kauf nehmen.

Als er das Bundessozialgericht anrief und schließlich eine Petition in den Bundestag einbrachte, drohte ihm der berufliche Ruin. Der damalige nordrhein-westfälischen Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) jagte ihn mit einem Disziplinarverfahren, das erst im September 2016 eingestellt wurde. Zwei Jahre zuvor war das Parlament Renesse gefolgt und änderte das Gesetz im Sinne einer fairen Behandlung der Überlebenden. Nun mussten sie in den Verfahren befragt werden und Renten wurden auch rückwirkend ausbezahlt.

Als Jan-Robert von Renesse am 10. Dezember im alten Sitzungssaal des Dachauer Rathauses den Zivilcourage-Preis entgegen nimmt, stellt er in seiner Dankesrede nicht sich, sondern die Holocaust-Überlebenden und die Historiker in den Mittelpunkt - und die Pflicht zur Aussöhnung. Er erinnert an den Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt 1970 am Mahnmal für das Warschauer Ghetto und an ein Bild, das 1960 um die Welt ging. Kanzler Konrad Adenauer und der israelische Premier David Ben Gurion reichen sich nach den Verhandlungen über die sogenannte Wiedergutmachung die Hand.

Auch in der Erinnerung daran bleibt eine Frage offen: Wie kann es sein, dass deutsche Richter, deutsche Rentenversicherungsanstalten und deutsche Politiker noch im 21. Jahrhundert die Rechte von Holocaust-Überlebenden derart mit Füßen treten konnten - und das auch noch ungestraft?

© SZ vom 28.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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