Tragisches Unglück:Rita im Herzen

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Vor 60 Jahren ertrinkt ein elfjähriges Mädchen bei dem Versuch, seine Freundin zu retten. In seinem Heimatort Pasenbach ist es bis heute unvergessen.

Von Viktoria Großmann, Weichs/Vierkirchen

Kein Grab erinnert an Monika Schmidt. Ihre Eltern konnten sich die Bestattung nicht leisten. Das elf Jahre alte Kind bekam ein Armenbegräbnis. Die Stätte ist wohl seit mindestens 40 Jahren aufgelöst. Wenige Schritte entfernt erinnert ein anderes Grab an Rita Mayr. Monika war Ritas Freundin. Rita konnte schwimmen, Monika nicht. Bei dem Versuch, die Freundin aus einem Weiher zu retten, starben beide Mädchen. Zuvor hatte Rita ein zweites Mädchen aus dem Wasser gezogen, es überlebte.

Rita Mayr wurde elf Jahre alt. In der Erinnerung ihrer Eltern, ihrer Geschwister, in der des Ortes lebte sie seit 60 Jahren weiter, bis heute. Es ist nicht nur das Familiengrab, auf der ihr Name zuoberst steht, auf dem nur sie ein Foto hat. Gleich daneben wurde auch die Straße in Pasenbach, in der die Familie einst wohnte, nach ihr benannt. An der Grundschule Esterhofen erinnert eine Gedenktafel an sie, die Rettungshütte am Naturbad Vierkirchen trägt seit zehn Jahren ihren Namen.

Rita, die Lebensretterin. Sophie Reith hat mehrere Fotos ihrer älteren Schwester gerahmt an der Wand hängen. Man kann sich vorstellen, dass die Schwestern sich ähnlich sehen, dass auch Rita heute noch ihr dichtes, festes Haar hätte, so wie Sophie Reith, und die gleichen hellblauen Augen. Sophie Reith, die heute 62 Jahre alt ist, möchte nicht fotografiert werden und sie möchte nichts von sich erzählen. Sie möchte an Rita erinnern, denn die Rita, sagt sie, war immer da. Immer wurde in der Familie an sie gedacht, an ihren Geburtstagen am 29. Dezember und an ihrem Todestag, dem 4. Juni.

Dabei weiß Sophie Reith von ihrer Schwester gar nichts mehr. Sie war erst zwei Jahre alt, als Rita starb. Es gab drei ältere Geschwister, geboren 1942, '43 und '44 - Rita -, und drei Jüngere. Nachkriegskinder, Nachgefangenschaftskinder. Erst 1949 kam der Vater aus Russland zurück. Allein hatte die Mutter in der Zwischenzeit den Hof bewirtschaftet, unterstützt nur von der Großmutter. Der Vater verdiente als Maurer noch etwas zum Familienunterhalt hinzu. Die Kinder waren viel sich selbst überlassen, durften stromern, wie es heute kaum noch erlaubt wird. Sie liefen weite Wege in die Schule oder fuhren mit dem Fahrrad.

An jenem Montag, am 4. Juni 1956, hätte Rita zu Hause bleiben sollen, um auf die kleinen Geschwister aufzupassen. So schildert es Schwester Sophie. Ihr älterer Bruder Karl erzählte vor 14 Jahren einer Grundschulklasse aus Vierkirchen, Rita habe an jenem Tag gar nicht zur Schule gehen sollen. Der Vater habe sie am Sonntag mit auf einen Ausflug genommen. Das Motorrad hatte eine Panne, erst spät in der Nacht kamen Vater und Tochter nach Hause. Wäre es nach der Mutter gegangen, hätte Rita sich ausgeruht. Doch Rita hatte offenbar ihren eigenen Kopf. Sie war für den Montagnachmittag mit ihren Freunden verabredet, zum Baden. Um dabei zu sein, nahm sie gern in Kauf, übermüdet in die Schule zu gehen.

Es gibt sehr viele Wenns in Ritas Geschichte. Ihr älterer Bruder Karl war auch am Weiher gewesen, hatte sich dann aber mit Freunden auf den Weg zu einer interessanteren Badestelle gemacht. Rita war bereits angekleidet und auf dem Heimweg, als die Rufe der Kinder sie erreichten. Sie war die einzige Schwimmerin. Sie kehrte um und sprang ins Wasser. Bekam zuerst Resi zu fassen und brachte sie an Land. Schwamm erneut in die Mitte des kleinen, aber für Nichtschwimmer zu tiefen Tümpels, um auch Monika zu helfen. Diese aber klammerte sich in ihrer Todesangst zu fest an die Freundin und zog sie mit sich in die Tiefe. Das andere Mädchen erholte sich im Krankenhaus Indersdorf. Erst am nächsten Tag konnten die beiden toten Mädchen aus dem Wasser geborgen werden.

Wenn Rita auf die Mutter gehört hätte, wenn der Bruder da geblieben wäre, wenn Rita die Rufe nicht mehr gehört hätte, wenn der Bauer auf dem nahen Feld richtig hingehört und die Schreie nicht als harmlos gedeutet hätte, wenn die spielenden Kinder nicht auf einem Autoreifen aufs Wasser hinausgetrieben wären.

Das Wenn, das alle Unglücke beherrscht, scheint nie größer zu sein als bei dem, was in der Statistik Badeunfall heißt. Immer geht es um unterschätzte Gefahr, oft um Leichtsinn. In jedem Sommer verunglücken Menschen in Gewässern, zwei Menschen starben im vergangenen Jahr im Landkreis. Diese Unfälle erscheinen meist besonders grausam, denn sie treffen uns in unserer größten Sorglosigkeit.

Posthum erhält Rita 1957 die bayerische Rettungsmedaille. Auch wenn keiner dem damaligen SPD-Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner gesagt hat, dass das Mädchen beim Retten ihr eigenes Leben verloren hat. Ihr Bruder Karl nimmt die Medaille entgegen. In jedem Jahr zeichnet der bayerische Ministerpräsident Lebensretter aus. Viele von ihnen sind nicht dafür ausgebildet, sondern haben einfach gehandelt und oft ihr eigenes Leben riskiert. Bei der Ehrung sagen sie dann verlegen, das sei doch selbstverständlich. Das ist es natürlich nicht. "Ich glaube nicht, dass ich mein Leben riskieren würde, um zu helfen", sagt die Schwester Sophie. Nicht, nach dem, was mit Rita passiert ist.

Gibt es Schuld in dieser Geschichte? Jenes Mädchen, das Rita retten konnte, blieb auch als Erwachsene in der Gegend. "Wir grüßen uns nicht", sagt Sophie Reith. Es ist kein Vorwurf, es ist eine Feststellung. Es habe nie mehr einen Versuch gegeben, Kontakt aufzunehmen. Kein Warum, keine Mutmaßungen. Nur die Erinnerungen im Fotorahmen: Vater, Mutter, Großmutter und sechs Geschwister. An der Wand gegenüber die Fotos ihrer eigenen Familie. Fünf Tage vor Ritas erstem Todestag stirbt auch die jüngste Schwester. Das einjährige Kind verunglückt beim Spielen in einem unbeobachteten Moment. "Es gab nicht viel Zeit zum Trauern", sagt Sophie Reith. Die Eltern arbeiteten hart. Sie sind nicht alt geworden, 72 Jahre die Mutter, 74 der Vater. Erst zehn Jahre nach Ritas Tod habe sich die Mutter das erste Mal an jenen Weiher in Jedenhofen gewagt, erzählt die Tochter. Zum Baden sei dort später keiner mehr hingegangen. Sie schaudert noch heute, wenn sie an der Stelle, die etwas abseits der Straße liegt, vorbeifährt.

Wenige Tage nach dem Unglück war das Frühsommerwetter umgeschlagen. Es regnet, als Rita am 8. Juni, einem Freitagmorgen, auf dem Friedhof in Pasenbach beerdigt wird. Der Pfarrer bedankt sich "für ihr frohes, fleißiges Singen im Kinderchor". In seiner Rede, von der die Schwester eine Abschrift aufbewahrt, heißt es: "Setzen wir diesem Kinde ein Denkmal in unseren Herzen." Die Geschwister tun das bis heute.

© SZ vom 24.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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