Weichs:380 Milliliter Leben

Weichs: Günter Vorpagel und seine Frau Annett hat die Krankheit noch enger zusammengeschweißt.

Günter Vorpagel und seine Frau Annett hat die Krankheit noch enger zusammengeschweißt.

(Foto: Toni Heigl)

Um Günter Vorpagels Leben zu retten, rief die Familie im Mai zu einer Suche nach einem Stammzellenspender auf. Mittlerweile hat der Leukämiekranke eine Transplantation erhalten.

Von Yulia Gelis, Weichs

"Das ist er, der Beutel, der alles bewirkt hat", sagt Günter Vorpagel und zeigt auf dem Foto einen vakuumverschlossenen Plastikbeutel, der mit einer roten Flüssigkeit gefüllt ist. "Periphere Blutstammzellen" steht darauf. 380 Milliliter - die lebensrettende Dosis für den blutkrebskranken Mann aus Ebersbach bei Weichs.

Wie für Tausende andere Leukämiepatienten stand auch für ihn nach der Diagnose fest: Ohne eine Stammzellentransplantation sind die Überlebenschancen gering. Doch die Wahrscheinlichkeit einen passenden Spender zu finden, liegt bei 1 zu 20 000, in schwierigeren Fällen eins zu mehreren Millionen. Für jeden fünften Patienten in Deutschland findet sich kein "genetischer Zwilling". Denn für eine erfolgreiche Transplantation müssen die Gewebemerkmale des Spenders nahezu hundertprozentig mit denen des Patienten übereinstimmen.

"Ich hatte Riesenglück", sagt der 50-Jährige und wischt sich mit einem Tuch über die Augen. Das einst leuchtende Azurblau der Augen erscheint im Vergleich zur Zeit vor den Chemotherapien blasser. Kurze, weiße Haare umranden das Kinn und zeigen sich auf dem kahlen Kopf. 85 Tage nach der Transplantation sitzt Günter Vorpagel in einem Café. Zurückgelehnt im Sessel aus beigefarbenem Leder, schlürft er an seinem kalten Radler. "Ich darf natürlich keinen Alkohol trinken, aber Radler geht schon." Vorpagel ist froh, dass er dessen Geschmack wahrnehmen kann. Seit der Behandlung ist sein Geschmackssinn teils verschwunden, auch der Geruchssinn hat gelitten. Süßes mag er nicht mehr. "Cola und Gummibärchen, die ich früher so mochte, schmecken mir überhaupt nicht mehr."

Ärztin stellt erschreckend schlechte Blutwerte fest

Günter Vorpagel hat den Verlauf seiner Krankheit auf Fotos festgehalten. Um sich an die vergangenen sieben Monate zu erinnern, braucht er sie allerdings nicht. Er erinnert sich auch so an jeden Tag: Das Drücken und Stechen in der Brust, das ihn im Februar plagt, hält er erst für die Folgen seiner seelischen Belastung. Im Januar war seine Mutter gestorben, wenige Tage später ein enger Freund. Als er sich schließlich doch untersuchen lässt, stellt die Ärztin erschreckend schlechte Blutwerte fest. Sie rät zur Knochenmarkpunktion, um festzustellen, ob eine Leukämie die Ursache ist.

Vorpagel behält den Verdacht der Ärztin für sich. Er will seiner Frau den Urlaub nicht verderben. Die Reise auf die Malediven war lange geplant. "Den Traum wollte ich mir und meiner Frau noch erfüllen", sagt er. "Hätte ich damals von seiner Krankheit gewusst, wäre ich niemals geflogen", sagt seine Frau heute. Noch im Urlaub ruft die Ärztin aus Dachau an und teilt den Termin für die Knochenmarkpunktion mit, sie erfolgt am Tag seiner Rückkehr von der Reise. Der Verdacht der Ärztin bestätigt sich: Günter Vorpagel leidet an akuter myeloischer Leukämie, kurz AML.

Relativ seltene Krebserkrankung

Blutkrebs ist laut deutscher Krebsgesellschaft eine der selteneren Krebserkrankungen. Etwas mehr als 11 400 Menschen erkranken demnach jährlich daran, bei etwa der Hälfte werden akute Formen festgestellt. Die Fakten kann Vorpagel nachlesen, doch was die Krankheit für ihn, seinen Alltag, seine Familie und Freunde bedeutet, kann er zunächst nicht ahnen. Ende März beginnt die Chemotherapie in München-Großhadern. "Die Ärzte sagten karg, nach fünf Wochen sei er wieder daheim. Für mich bedeutete es, danach wird alles in Ordnung", sagt Annett Vorpagel. Nicht nur sie hat Schwierigkeiten, die Situation zu begreifen. "Die Leute wussten nicht, wie sie mit der plötzlichen Krankheit umgehen sollten. Hatten Angst etwas Falsches zu sagen und mieden den Kontakt", erzählt sie. Die beiden 19 und 25 Jahre alten Söhne müssen von einem auf den anderen Tag mehr Verantwortung übernehmen. Vorpagel betreibt seit 19 Jahren ein Unternehmen für die Entsorgung von Asbest. Seit seiner Erkrankung kümmern sich die Söhne ums Geschäft.

Die Zurückhaltung in der Umgebung gibt sich schlagartig, als das Ehepaar beschließt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Ärzte haben ihm erklärt, dass ihm nur eine Stammzellenspende helfen kann, wieder gesund zu werden. Zwar können solche über die Deutsche Knochenmarkspenderdatei DKMS gefunden werden, doch es gibt zu wenige Spender. Zudem müssen sehr viele Merkmale überein stimmen, selbst der eigene Bruder scheidet als Spender aus. Um seine Chancen zu erhöhen, einen geeigneten Spender zu finden, wendet sich Vorpagel mit Hilfe der DKMS im Mai an die Öffentlichkeit. Vorpagel nennt diese Entscheidung heute "die beste seines Lebens". Die Anteilnahme ist überwältigend.

Der Weichser Bürgermeister Harald Mundl, die Feuerwehr, der Fußballverein, Presse und Rundfunk, Freunde und Bekannten unterstützen die Familie in ihrem Vorhaben, eine große Typisierungsaktion zu veranstalten. 884 bereitwillige Spender kann die DKMS innerhalb von nur vier Stunden registrieren. Diese helfen damit nicht nur einem, sonder potenziell sehr vielen Menschen. Darüberhinaus erreichen Vorpagel nun Briefe, Karten, CDs und T-Shirts mit Genesungswünschen und aufmunternden Worten.

Spender aus der Nähe von Ulm

Dass Vorpagel die Menschen in Weichs um Hilfe bittet, hat nicht nur damit zu tun, dass er da aufgewachsen ist. Die Wahrscheinlichkeit in der nächsten Umgebung einen geeigneten Spender zu finden, ist höher. Bei den neuregistrierten Spendern werden anhand der Gewebeprobe zwölf relevante Gewebemerkmale (Human Leukocyte Antigen, verkürzt HLA-Merkmale) im Labor hochauflösend analysiert. Es sind mehr als 10 000 Gewebemerkmale bekannt. Für eine Stammzellentransplantation ist die Übereinstimmung von zehn, mindestens aber von acht HLA-Merkmalen nötig, um die Abstoßungsgefahr zu mindern. Das Verblüffende ist: Die Kombination dieser Merkmale unterscheidet sich regional. Das heißt, je weiter die geografische Herkunft des Patienten und die des potenziellen Spenders auseinanderliegen, desto geringer ist die Übereinstimmung.

Der Spender, dessen Stammzellen sich eignen, kommt jedoch schließlich nicht aus dem Landkreis, sondern aus der Nähe von Ulm. Er ist 23 Jahre alt, männlich - das ist alles, was Günter Vorpagel über seinen Lebensretter weiß. Die weiteren Daten bleiben zwei Jahre lang unter Verschluss, erst dann können sich die beiden bei gegenseitigem Interesse kennenlernen. Während in seinem Heimatort für die Typisierung geworben wird, übersteht Vorpagel mühsam die zweite Chemotherapie. Wie nebenbei teilen ihm die Ärzte schließlich mit: Der Spender ist gefunden. Vorpagel und seiner Frau treten Tränen in die Augen, wenn sie von diesem Moment berichten.

Patient muss vor Keimen geschützt werden

Doch auch mit dieser Nachricht ist längst nicht alles gut. Bevor die gesunden Stammzellen übertragen werden können, müssen alle Krebszellen im Körper des Patienten abgetötet werden. Ein Mix, genannt "Hammer-Chemo", vernichtet alle, auch die gesunden Zellen, damit der Körper mit den transferierten Zellen "neu gestartet" wird, erzählt Vorpagel. Die eigentliche Transplantation ist im Vergleich zu einer Organspende wenig kompliziert. Vorpagel hat auch diesen Moment auf einem Foto festgehalten. Kein OP-Tisch, kein Skalpell, keine Ärzteschar sind darauf zu sehen. In einem blauen Kittel liegt Vorpagel im Krankenhausbett, lächelt in die Kamera, am Finger ein Clip zur Überwachung der lebenswichtigen Funktionen, um ihn herum dutzende Schläuche. Durch eine Kanüle werden die Spenderzellen in die Halsvene übertragen. Zwei Stunden lang. Darauf folgen fünf Wochen lang starke Medikamente, sechs Wochen lebt er beinahe wie in Quarantäne. Wenn Annett Vorpagel ihren Mann besucht, muss sie einen speziellen Anzug, Schuhe und Mundschutz tragen. Der Patient muss vor jeglichen Viren, Bakterien und Keimen geschützt werden.

Vorpagel leidet unter den Nebenwirkungen der Therapie: Schwindelanfälle, Schüttelfrost, Essstörungen, Infekte machen ihm zu schaffen. Auch in diesen Wochen hilft ihm die Anteilnahme der Menschen, die ihm Briefe und E-Mails senden oder sich auf Facebook melden. Das Mitgefühl, dass ihm teils unbekannte Menschen aufbringen, wirkt auf ihn wie ein Adrenalinkick, es baut ihn seelisch auf. Ende August darf Vorpagel nach Hause fahren, früher als geplant.

Langer Weg bis zur vollständigen Genesung

Bis zur endgültigen Heilung ist es jedoch noch ein langer Weg. Noch immer nimmt Vorpagel Medikamente, die sein Immunsystem am Arbeiten hindern, sodass der Körper nicht versucht, die transplantierten Zellen abzustoßen. Günter Vorpagel hat es genau gezählt: Es wird Tag 110 nach der Transplantation sein, wenn auch diese Medikamente abgesetzt werden. Noch die nächsten fünf Jahre lang wird Vorpagel regelmäßig zur Blutkontrolle und Knochenmarksuntersuchungen gehen müssen.

Vorpagel ist am Leben. Aber es ist ein anderes Leben. Seiner Frau, die er seit 16 Jahren kennt, fühlt er sich heute näher als je zuvor. Die Krankheit hat sie zusammen geschweißt. Der Stolz auf die Söhne ist, wenn das geht, noch gewachsen. Im Januar will Vorpagel anfangen, sie wieder im Unternehmen zu unterstützen. Und dann möchte er noch etwas nachholen. Das Oktoberfest zum Beispiel. Nächstes Jahr will er mit seiner Frau wieder auf die Wiesn gehen. Im Jahr eins nach der Transplantation.

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