Vierkirchen:Zweifache Willkür

Vierkirchen: Geschichtsforscher Helmut Größ und Bernhard Weber (v. li.), Norbert Göttler, Vizelandrätin Marianne Klaffki, Harald Dirlenbach, Sabine Gerhardus.

Geschichtsforscher Helmut Größ und Bernhard Weber (v. li.), Norbert Göttler, Vizelandrätin Marianne Klaffki, Harald Dirlenbach, Sabine Gerhardus.

(Foto: Toni Heigl)

Pfarrer Wilhelm Pflüger wurde in der Nazizeit verfolgt. Später musste er erleben, dass die Täter zu nachsichtig behandelt wurden

Von Sonja Siegmund, Vierkirchen

Es sind zwei Lebenswege, zwei Schicksale und zwei Beispiele, wie es Bürgern in Vierkirchen erging, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten oder wenigstens in den Verdacht gerieten. In der Reihe des Dachauer Gedächtnisbuches über NS-Zeitzeugen haben Helmut Größ und Bernhard Weber die Geschichte von Pfarrer Wilhelm Pflüger und Johann Bieringer aufgeschrieben. Die Ausstellung dazu ist im Vierkirchener Rathaus zu sehen. Das Gedächtnisbuch wird von Sabine Gerhardus beim Dachauer Forum geleitet.

Im Widerstand aktiv gegen die Nationalsozialisten war indes Pfarrer Wilhelm Pflüger. Dessen Lebensgeschichte hat Heimatforscher Größ erforscht, Redakteur der Vierkirchener Heimatblätter. In den 1950er Jahren wirkte der Pfarrer zwei Jahre in Vierkirchen, wo ihn Größ persönlich kennenlernte. 1938 zog Pflüger als Expositus der Pfarrei Hallbergmoos in den Pfarrhof ein. Seine besondere Aufgabe sah Pfarrer Pflüger in der Betreuung der katholischen Jugend. Die negative Einstellung zu den Nationalsozialisten brachte ihn in Schwierigkeiten mit den politischen Machthabern, die Erziehungsarbeit außerhalb der NS-Ideologie nicht duldeten. Pflüger baute ein antifaschistisches Netzwerk auf, unterstützt von Bürgern aus München und Umgebung. Wenig bekannt war, dass er in den 1930er Jahren als Mitglied des Harnier-Kreises im Widerstand gegen die Nazis aktiv war. Seine entschlossene Haltung brachte Pflüger von Dezember 1944 an Gefängnis- und KZ-Haft ein.

Als im April 1945 die Amerikaner anrückten, wurden Tausende von Dachau-Häftlingen im Todesmarsch nach Süden geschickt. Pflüger hatte zuvor von diesem Transport erfahren und ließ sich in die Typhusstation in Quarantäne einweisen. Wenige Tage nach Kriegsende gelang ihm die Flucht zu seinem Pfarrhof, wo er sich an die Aufarbeitung des Geschehenen machte. Beim Spruchkammerverfahren musste der Pfarrer indes erfahren, dass man NS-Aktive schonend behandelte und selten bestrafte. Nach zwei Jahren in Vierkirchen zog er sich aus gesundheitlichen und persönlichen Gründen zurück, 1967 verstarb Pflüger in Altötting. Zwei Dinge haben sein Leben vor und nach dem Krieg geprägt: die allzu angepasste Haltung der katholischen Kirche während der NS-Zeit und die ungerechte, nachsichtige Behandlung der Täter durch die Justiz, sagte Größ.

Man weiß nicht, ob Johann Bieringer tatsächlich im Naziwiderstand aktiv war. Aber seine Geschichte, die Bernhard Weber erzählt, verliert dadurch nichts an ihrer Bedrückung. Armut und die sozialen Umstände dürften zwischen 1926 und 1932 zu etlichen Haftstrafen wegen Bettelns beigetragen haben. In die Fänge der "Bayerischen Politischen Polizei" geriet Fuhrknecht Bieringer angeblich wegen Verbreitung kommunistischer Druckschriften. Über die Anklage wurde dann - wie immer bei "politischen" Straftaten im Nationalsozialismus - in letzter Instand von einem Sondergericht entschieden.

Ob der Pasenbacher die Flugschriften indes verteilte, sei aus den ihm vorliegenden Quellen nicht zweifelsfrei hervorgegangen, erklärte Weber. Jedenfalls sei Bieringer im Februar 1934 in Schutzhaft genommen worden, nachdem er einem Mitbewohner helfen wollte, eine Druckmaschine in dessen Münchner Wohnung außer Haus zu bringen. Laut Angaben der Polizei sei er bis 1933 KPD- und Gewerkschafts-Mitglied gewesen. Aufgrund der Aussagen von Mitbewohnern musste Bieringer im März 1934 eine KZ-Strafe antreten. Aus Mangel an Beweisen wurde Bieringer schließlich freigesprochen, trotzdem wurde er drei Tage danach wieder ins KZ zurückgebracht. Ob sich Bieringer seine KZ-Haft durch aktive Widerstandstätigkeit eingehandelt hatte oder er falsch belastet wurde, habe er nicht mehr rekonstruieren können, sagte Weber. Bieringer sei 1935 freigekommen und 1943 als Soldat in Russland gefallen.

Auf das wachsende Interesse an lokaler Geschichtsforschung verwies der Vierkirchener Bürgermeister Harald Dirlenbach bei der Vernissage. Gerade in der heutigen Zeit sei es wichtig, "unser Andenken zu bewahren und das Verständnis für Geschichte bei der Jugend zu wecken". Marianne Klaffki, stellvertretende Landrätin, sprach die populistischen Töne in zahlreichen europäischen Ländern an, mit schlimmen nationalistischen und rassistischen Ausgrenzungen. Norbert Göttler, Bezirksheimatpfleger von Oberbayern, erklärte, dass es auch zur Aufarbeitung nach 1945 gehört, konkrete Schicksale zu erforschen, aufzuschreiben und somit bloßen Nummern ein Gesicht zu geben. "Das ist Heimatpflege im besten Sinne."

Bis Freitag, 9. Juli, Rathaus Vierkirchen zu besichtigen jeweils von Montag bis Freitag von acht bis zwölf Uhr, donnerstags von 14 bis 18 Uhr. Eine Führung ist für Donnerstag, 8. Juni, 19 Uhr, geplant.

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