Verleihung des Zivilcourage-Preises:Unerbittlich anständig

Jan-Robert von Renesse ließ sich im Kampf um Renten für Holocaust-Überlebende, die in Ghettos der Nationalsozialisten schuften mussten, nicht klein kriegen. Die Stadt Dachau ehrt den Sozialrichter für seinen Einsatz

Von Helmut Zeller, Dachau

Für einen Mann, dem ein Maulkorb verpasst wurde, redet Richter Jan-Robert von Renesse ziemlich viel. Seine Dankesrede zur Verleihung des Dachau-Preises Zivilcourage beleuchtet die besonders üble Entschädigungspraxis für Holocaust-Überlebende, die in den Ghettos schuften mussten und deren Anspruch auf Renten mit den Füßen getreten wurde. Der heute 51-jährige Sozialrichter aus Nordrhein-Westfalen machte sich zum Anwalt dieser Menschen - und nahm dafür arge berufliche Nachteile und Anfeindungen in Kauf. Zuletzt überzog ihn auch noch der frühere Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) mit einem Disziplinarverfahren. Das wurde im September 2016 eingestellt, über die Einigung wurde Stillschweigen vereinbart.

Preis für Zivilcourage

Mehr als fünfzig Besucher nehmen an der Verleihung des Dachau-Preises für Zivilcourage im Alten Sitzungssaal des Rathauses teil.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Jan-Robert von Renesse behauptet nicht mehr, dass Richterkollegen Absprachen zum Schaden der Holocaust-Überlebenden trafen. Muss er auch nicht. Das macht der Historiker Wolfgang Benz in seiner Laudatio auf den Preisträger: "Aber genau so war es doch. Die Absprachen zwischen Justiz und Rentenversicherung, 1500 Fälle ein halbes Jahr lang nicht zu bearbeiten, gab es und dass alle Antragsteller uralt und viele von ihnen krank waren, das wussten die Richter und die Rentenbürokraten ..."

Preis für Zivilcourage

Aufgeräumter Redner im Dachauer Alten Sitzungssaal: Preisträger Jan-Robert von Renesse.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Ein Raunen geht durch den Alten Sitzungssaal im Dachauer Rathaus, in den zum Festakt am Sonntag mehr als 50 Besucher gekommen sind. Eine dreiköpfige Jury, zu der neben Wolfgang Benz Sybille Krafft und Martin Schmidl gehören, vergibt seit 2005 im zweijährigen Turnus den Dachau-Preis für Zivilcourage. Er soll im Wissen um die nationalsozialistische Geschichte Dachaus "ein Zeichen gegen das Wegschauen, das Schweigen und die Gleichgültigkeit" setzen. "Die Stadt Dachau ehrt den konsequenten Einsatz von Jan-Robert von Renesse für die Rechte der Holocaust-Überlebenden, in dem er auch trotz gravierender beruflicher Nachteile nicht nachließ", sagt Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD). Der mit 5000 Euro dotierte Preis - Jan-Robert von Renesse hat das Geld einer Organisation von Holocaust-Überlebenden gespendet - geht auch an einen Mann, der jahrelang für die Unabhängigkeit der Gerichte gekämpft hat.

Preis für Zivilcourage

Laudator war der Historiker Wolfgang Benz. Er spricht für Renesse aus, worüber dieser schweigt.

(Foto: Niels Jørgensen)

Wolfgang Benz, bis 2011 Leiter des Zentrums der Antisemitismusforschung an der TU Berlin, lässt die Geschichte des couragierten Richters Revue passieren: 2002 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, laut dem nach der späten Entschädigung der Zwangsarbeiter auch an die jüdischen Ghetto-Bewohner für die dort geleistete Arbeit eine kleine Rente gezahlt werden sollte, sofern sie ihren Anspruch beweisen konnten. Etwa 88 000 Anträge, vor allem aus Israel und den USA, gingen ein. Die Rentenbürokratie wies jedoch 93 Prozent dieser Anträge ab. Dagegen konnten die Antragsteller klagen. 2006 kam der erste Fall auf den Tisch des damals 39 Jahre alten Renesse am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Er orientierte sein Handeln an den Menschen, nicht am Aktenstaub, wie Benz sagt. "Dass Renesse Lokaltermine in Israel hielt, dass er (...) Historiker einspannte und dass seine Bewilligungsquote der von ihm bearbeiteten Fälle 60 Prozent betrug, war den Kollegen ein Dorn im Auge", sagt Benz. Andere Richter stützten sich bei der Urteilsfindung auf Nazi-Akten oder Wikipedia, wenn sie nicht wussten, ob es das fragliche Ghetto gegeben hatte.

Die Rentenbürokratie verschleppte mit der Justiz die Bearbeitung der Anträge - "allein angesichts des Schicksals und des hohen Alters der Holocaust-Überlebenden könnte man ein solches Ansinnen als unanständig bewerten, wenn es nicht Zynismus war, der auf eine biologische Lösung vieler Fälle zielte", sagt Wolfgang Benz. Renesse macht Druck, initiiert 2009 beim Bundessozialgericht eine Grundsatzentscheidung zugunsten der Betroffenen. Im März wird der aufsässige Jurist von den Ghetto-Fällen abgezogen und in "ein schäbigeres Dienstzimmer mit defekter Heizung" abgeschoben. Seine Klage wird abgewiesen. 2012 verlangt er in einer Petition an den Bundestag eine faire Behandlung der Holocaust-Überlebenden, dass sie gehört und nicht nach Fragebogen entschieden und rückwirkend gezahlt wird. 2014 gibt ihm das Parlament Recht und verändert das Ghettorenten-Gesetz.

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