SZ-Serie "Sagen und Mythen", Folge 16:Hüter der Moral

Tief im Walchensee wacht ein riesiger Waller über die Sittlichkeit. Nimmt diese zu sehr ab, überschwemmt er München und ganz Bayern

Von Anja Brandstäter

Friedhelm Oriwol öffnet die Türen des Walchensee Museums. Offiziell ist es über die Wintermonate geschlossen, doch ab und zu muss der Museumsgründer und -leiter nach dem Rechten sehen. In den Räumen verbergen sich zahlreiche Schätze und von der Terrasse hat man einen grandiosen Blick über den See, der zwischen den Bergen auf einer Höhe von 803 Metern liegt. Der Walchensee ist der größte und mit 192 Metern tiefste Gebirgssee Deutschlands. Dabei ist die Fläche mit 16,4 Quadratkilometern, gemessen an anderen oberbayerischen Seen, eher klein. Das Wasser, das Trinkwasserqualität aufweist, ist kalt und klar. "Bei Anglern ist der See wegen seines Fischreichtums bekannt und beliebt", erzählt Friedhelm Oriwol. Schon vor mehr als 500 Jahren hätten die Fischer Fischarten wie Renken und Saiblinge eingesetzt

Insgesamt leben mehr als 30 Fischarten im See, darunter Seeforellen, Saiblinge, Hechte, Renken, Barsche, Aalrutten und Koppen. Aufgrund der ausgezeichneten Wasserqualität gedeihen sogar Teichmuscheln. Die Farbe des Wassers changiert je nach Wetterlage und Sonneneinstrahlung von türkisblau bis tief schwarz. An schönen Tagen liegt der See friedlich und idyllisch in der Sonne. Doch wenn Unwetter nahen, wirkt er plötzlich bedrohlich und leicht entsinnt man sich der Sage vom schrecklichen Ungeheuer, das am Seegrund hausen soll - ein riesiger Waller soll dort schlafen, den Schwanz im Maul. Sobald Unzucht und Morallosigkeit überhand nehmen, soll er den Schwanz loslassen. Dann, so heißt es, spalte sich das Gestein des Kesselberges, das Wasser des Walchensees ergieße sich über ganz Bayern und überschwemme München.

Das Fischmonster

Der heilige Rupert soll der Legende nach Flüchtlingen, die sich in der unzugänglichen Wildnis am Walchensee ansiedelten, am Ufer ein Kirchlein gebaut haben. Ein frommer Bruder hielt Wache über das Gotteshaus. Eines Abends ruderte ein junger Fischer der Kapelle entgegen. Die Sonne war bereits untergegangen und die ersten Sterne ließen sich am Himmel blicken, als die Kirchenglocke zum Gebet läutete. Der junge Mann blickte gedankenversunken in die dunklen Wogen. Da wurde es plötzlich hell in der Tiefe, und mit Entsetzen sah er tief unten ein fischartiges Ungeheuer. Es hielt mit scharfem Gebiss seinen Schwanz im Rachen und umspannte mit dem Riesenleib im weiten Bogen den ganzen Kesselberg. Die Augen glichen rollenden Feuerrädern, als sich der junge Fischer dem drohendem Blick ausgesetzt sah und sogleich vor Schreck in Ohnmacht fiel. Die Wellen schaukelten das Boot ans Ufer. Der über das Kirchlein Wachende brachte den Bewusstlosen wieder zu sich. Mit zitternder Stimme erzählte der Fischer von dem furchtbaren Wesen - und starb.

Lässt das gewaltige Ungetüm einmal seinen Schwanz los, dann soll sich das Gestein des Kesselberges spalten, das Wasser des Walchensees sich über ganz Bayern ergießen und München überschwemmen.

Auch Oriwol kennt die Sage vom Waller. Er zieht ein altes Buch aus dem Jahre 1850 heraus. Darin ist die Geschichte aufgeschrieben. Da Sagen zunächst mündlich überliefert wurden, gibt es sie in Variationen. Das tiefe Wasser und die Unwetter beflügelten die Fantasie der Menschen. Sie hielten vor allem tiefe Seen für unergründlich und glaubten, sie stünden mit dem Meer in Verbindung. So hat nicht nur Loch Ness seine Nessi, sondern bald jeder See ein eigenes Ungeheuer. Nichts fasziniert eben so sehr, wie das Ungewisse, das sich in den Tiefen verbirgt.

Sagenserie - Waller Walchensee

Das Fischmonster sorgt noch heute für Gesprächsstoff.

(Foto: Manfred Neubauer)

Am Walchensee erzählten sich die Menschen von einem mutigen Mann, der sich in einer Tauchglocke in die Tiefe wagte. "Natürlich hat er den Waller gesehen. Das war wichtig, sozusagen ein Beweis, damit die Bevölkerung weiterhin in Ehrfurcht lebt", sagt Oriwol. "'Ergründest du mich, so schluck ich dich!' soll er aus den Fluten gerufen haben."Doch die Überlieferungen verschwinden allmählich. "Die meisten Sommer-Badegäste, Segler, Surfer und Taucher haben von diesem Ungeheuer noch nie etwas gehört. Einheimische wissen nur noch teilweise, welches Schicksal droht, wenn die Moral verfällt", sagt Oriwol lachend. Heute ist der Walchensee bei Tauchern sehr beliebt. Trotz der ausgezeichneten Sicht unter Wasser - bis zu 40 Metern - haben die das Ungeheuer bislang nicht zu Gesicht bekommen. Vielmehr sind die Auto-, Boots- und Flugzeugwracks am Seegrund eine Attraktion.

In Gisela Schinzel-Penths Buch "Sagen und Legenden um Tölzer Land und Isarwinkel" stößt man auf weitere spannende Aspekte: Um den Waller zu besänftigen, wurden in der Münchner Gruftkirche regelmäßig heilige Messen gehalten. Ferner ließen die Stadtväter jedes Jahr einen Ring aus purem Gold schmieden. Dazu durfte nur Gold aus der Isar, das vorher durch die Jachen geschwemmt worden war, verwendet werden. Und nur ein rechtschaffener Bürger durfte die ehrenvolle Arbeit verrichten. Er wurde angehalten, darauf zu achten, dass dem Ring kein Makel anhaftete. Das kostbare Schmuckstück wurde geweiht und unter reger Beteiligung der Bevölkerung in einer feierlichen Prozession zum Walchensee gebracht. Dort wartete ein über und über mit Blumen geschmückter Kahn. Mit diesem wurde der Ring in die Mitte des Sees gebracht und dort den dunklen Fluten übergeben. Diese Festlichkeit wurde jedes Jahr am Sonntag vor der Sommersonnenwende abgehalten. Die Münchner Bürger hofften, durch dieses Opfer die drohende Sintflut abwenden zu können. Die vielen Goldringe, die der Sage nach in den See geworfen wurden, wurden nie gefunden. Interessant ist aber der Hinweis auf die Flussgoldwäscherei, die man bin ins 18. Jahrhundert an der Isar betrieb. Das Kurfürstliche Münzamt prägte 1756 die erste Dukate aus dem Flussgold der Isar.

Wenn man auch den Waller wohl kaum zu Gesicht bekommen wird - das Walchensee Museum bietet auch andere Schätze. Inge und Friedhelm Oriwol haben über mehrere Jahrzehnte lang Walchensee-Gemälde, Lithografien, Radierungen, Postkarten und Bücher gesammelt. Als sie vor elf Jahren einen großen Teil des grafischen Werks des Malers Lovis Corinth erwerben konnten, sahen sie sich einer Herausforderung gegenüber: Sie brauchten Räume zur Lagerung. Die Oriwols erwarben im Jahr 2006 das Hotel Post in Urfeld und bauten es zu dem Walchensee Museum aus, das sich über drei Etagen zieht. Beide sind Experten in allen Fragen rund um den Walchensee. In einer Vitrine liegen zwei Heftchen von 1885 und 1886. Oriwol hat sie bei einer Auktion ersteigert. Sie erzählen ein weiteres Walchensee-Märchen. Es handelt von einer Nixe, die im See lebt, und von einem Jüngling erlöst werden kann. Schließlich findet sich auch einer, der sie liebt. Doch den zieht sie nach Nixenart zu sich ins Wasser, so dass der arme Bursche ertrinkt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: