Geschichten aus dem Dachauer Land:Mein Nachbar, der Rehbock

Keine Kirche, kein Wirtshaus, kein Laden: Wer im Weiler Senkenschlag bei Markt Indersdorf wohnt, hat einen weiten Einkaufsweg, lebt aber mitten in der Natur. Auch Bürgermeister Franz Obesser genießt hier die Abgeschiedenheit und die Ruhe

Von Robert Stocker, Markt Indersdorf

Nein, einen Ortskern gibt es in Senkenschlag nicht. Keine Kirche, kein Wirtshaus, keinen Verein. Und auch keinen Tante-Emma-Laden. Auf einem Hügel steht eine Feldkapelle, doch die gehört schon zum Nachbarort Wagenried. Allerdings gibt es zwei Bushaltestellen an der Durchgangsstraße. Die Schulbuslinie 782 fährt von Markt Indersdorf über Senkenschlag nach Altomünster. Gleich zwei Haltestellen in einem Weiler? Na ja, das 60-Seelen-Dorf zieht sich ziemlich weit hin. Die Häuser und Höfe liegen weit verstreut in der hügeligen Landschaft. Wer seinen Nachbarn besuchen will, muss manchmal mehrere Hundert Meter gehen. Senkenschlag ist keine geschlossene Siedlung. Hier wohnen die Menschen nicht Zaun an Zaun, jeder hat die Natur vor der Haustür. Das macht wohl den Reiz dieses Weilers aus, der einer von 59 Ortsteilen in Markt Indersdorf ist. Es gibt Indersdorfer, die nicht wissen, wo Senkenschlag liegt. Dabei ist der Weiler nur sieben Kilometer vom Hauptort entfernt. So gesehen ist es verständlich, dass er auch für Menschen aus den Nachbargemeinden terra inkognita ist. "Ich wohne jetzt 60 Jahre in Röhrmoos", sagt ein etwas älterer Radler, der mit seinem E-Bike am Ortsschild steht. "Aber in Senkenschlag bin ich heute zum ersten Mal."

Ganz unbedeutend ist der Weiler trotzdem nicht. Immerhin wohnt hier der Bürgermeister von Indersdorf. Franz Obesser ist in Senkenschlag aufgewachsen. Er schätzt die schöne Landschaft und die Natur, die Ruhe, die über dem Weiler liegt. Die wussten offenbar auch schon die Augustiner Chorherren zu schätzen. Im Jahr 1271 schenkte ein gewisser Gottfried das heutige Ortsgebiet dem Kloster. Die bewaldete Gegend hieß damals "Schenkenschlag", wie Jakob Fischhaber und Josef Kröner in der "Chronik Langenpettenbach früher und heute" schreiben. Der Name bedeutet Rodung des Schenk. Nach der Klosteraufhebung 1783 wurde der Wald abgeholzt. Lukas Landmann aus Ainhofen kaufte 1806 ein großes Grundstück und bebaute es mit einfachen Häusern, die er an Siedler verkaufte. Die Bewohner führten ein hartes, aber ruhiges Leben. Die Idylle ist bis heute geblieben. Bürgermeister Franz Obesser fühlt sich hier wohl. Die Menschen pflegen eine gute Nachbarschaft, alles ist überschaubar, jeder kennt jeden. Als der Bürgermeister noch in der Privatwirtschaft tätig war, jettete er in der Welt herum und war oft Tage lang nicht zu Hause. "Wenn ich zurückkam", sagt Obesser, "genoss ich wieder die Ruhe abseits des Trubels". Deshalb findet er es auch nicht so schlimm, dass er zum Einkaufen sieben Kilometer weit fahren muss.

Das sieht auch seine Tante so. Anna Obesser wohnt im Nachbaranwesen. Mit ihrem Mann führte sie früher eine kleine Landwirtschaft. Heute pflegt die 75-Jährige noch Haus und Garten. Früher gab es noch einen Laden in Langenpettenbach, heute muss auch sie nach Indersdorf fahren, um sich mit Lebensmitteln versorgen zu können. Ohne Auto geht das nicht. Wenn Anna Obesser zum Einkaufen fährt, ist es meistens ein Großeinkauf. Denn sie legt sich Vorräte an. "Damit ich nicht für jedes Trumm nach Indersdorf fahren muss". In ihrem Bauerngarten baut sie viel Gemüse an, an der Südseite ihres Hauses wachsen zwei Birnbäume im Spalier, sogar einen Pfirsichbaum hat sie im Garten. Das frische Obst und Gemüse schmeckt nicht nur gut, sondern dient auch zur Selbstversorgung. In Senkenschlag machen das viele so. Der eigene Garten erspart manchmal den Einkauf in Indersdorf. In die Stadt fährt Anna Obesser sowieso nicht gern. "Da komm' ich mit einem Brummschädel wieder heim", sagt sie. In Senkenschlag genießt sie die schöne Landschaft und Ruhe. "Für mich liegt der Urlaub vor der Haustür." Oft wird die 75-Jährige in ihrer Ruhe nicht gestört. Ab und zu schaut ein Zeitungsverkäufer oder Eisenhändler vorbei. Das war's. Aber eine gute Nachbarschaft wird im Dorf groß geschrieben. "Jeder hilft jedem", sagt die Tante des Bürgermeisters.

Fast jede Familie in Senkenschlag hatte früher einen landwirtschaftlichen Betrieb. Jetzt sind es noch zwei Höfe, die bewirtschaftet werden. Für Anna Obesser hat die Landwirtschaft keine Zukunft mehr, nur die großen Betriebe könnten noch überleben. Außerdem gebe es in Senkenschlag ein Problem mit dem Bauland. Damit der Weiler nicht zersiedelt wird, werden keine neuen Baugebiete ausgewiesen. "Nicht einmal für die eigenen Kinder", klagt Obesser. Der Weiler ist nicht an die zentrale Kläranlage in Markt Indersdorf angeschlossen. Jeder Hausbesitzer musste eine eigene kleine Anlage bauen. Dafür gibt es jetzt auch in Senkenschlag schnelles Internet. Die Glasfaserkabel wurden bereits verlegt, einige Haushalte sind schon angeschlossen. "Ich brauch's nicht mehr", sagt Anna Obesser.

Senkenschlag

Gemeinde: Markt Indersdorf

Einwohnerzahl: 60

Gründung: Die erste Siedlung entstand Anfang des 19. Jahrhunderts Größter Moment in der Geschichte: Anschluss ans schnelle Internet

Wichtigste Einrichtungen: Zwei Bushaltestellen der Linie 782

Bekannteste Persönlichkeit: Bürgermeister Franz Obesser

Junge Leute wie Yvonne Scigalla und Matthias Krimmer haben eher dafür Verwendung. Yvonne stammt aus Langenpettenbach, Matthias ist in Senkenschlag aufgewachsen. Mit ihren beiden kleinen Kindern, der achteinhalb Monate alten Anna und dem dreijährigen Niklas, wohnen sie in einem Austragshaus direkt an der Straße. Der 35-Jährige hat es von seinen Eltern bekommen, die Mutter wohnt noch mit im Haus. Auch dieses Anwesen steht allein; abgesehen von der Straße ist ringsum Natur. Das Paar fühlt sich in Senkenschlag wohl, obwohl es hier ziemlich einsam ist. Um mobil zu sein, brauchen beide einen fahrbaren Untersatz. Alles nicht so schlimm, sagt die junge Mutter. "Wer auf dem Land lebt, braucht immer ein Auto." Das Leben in Senkenschlag habe zwei Seiten. Ruhe und Idylle einerseits, andererseits lange Anfahrtswege. Für die Kinder ist die Lage ein Paradies. Der Garten, in dem eine kleine Holzhütte und eine Voliere mit Papageien stehen, grenzt direkt an ein Maisfeld an. Matthias Krimmer hat inzwischen einen dünnen Drahtzaun gezogen. Damit sich nicht wieder ein Rehbock oder gar eine Wildsau in den Garten verirrt. Fuchs und Hase sagen sich hier sowieso gute Nacht.

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