Statt Seelsorgern kamen Drogenhunde:Bittere Wahrheit

Statt Seelsorgern kamen Drogenhunde: Der Journalist Robert Andreasch und Opfer-Anwalt Yavuz Narin werfen den Ermittlern der NSU-Morde Versagen vor.

Der Journalist Robert Andreasch und Opfer-Anwalt Yavuz Narin werfen den Ermittlern der NSU-Morde Versagen vor.

(Foto: Toni Heigl)

Der Prozess gegen Beate Zschäpe steht kurz vor dem Abschluss, doch der Hintergrund der Terrorzelle NSU bleibt wohl ungeklärt. Der Anwalt der Angehörigen eines Opfers schildert, wie die betroffene Familie in den Fokus der Ermittler geriet

Von Felix Wendler, Dachau

"Statt Seelsorgern hat man der Familie Drogenspürhunde geschickt", erzählt Yavuz Narin. Der Anwalt vertritt die Angehörigen von Theodoros Boulgarides, die im Mordprozess gegen Beate Zschäpe als Nebenkläger auftreten. Boulgarides wurde im Juni 2005 im Münchner Westend mit drei Kopfschüssen ermordet.

Das Versagen bei der Aufklärung von Boulgarides Ermordung durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) war ein zentrales Thema in der evangelischen Versöhnungskirche Dachau. Zusammen mit dem Journalisten Robert Andreasch berichtete Narin vom aktuellen Stand des NSU-Prozesses, der bereits seit vier Jahren läuft und nun kurz vor dem Abschluss steht.

Bis sich die rechtsextremistische Terrorzelle 2011 selbst enttarnte, beharrten die Ermittler auf der These eines ausländischen Täters. Zur Untersuchung gründeten sie die Soko Bosporus. "Polizeiliche Ermittlungsthesen waren vom institutionellen Rassismus geprägt", sagt Andreasch. Die Familie von Boulgarides rückte man ins Licht von Drogendealern, Prostitution und türkischer Mafia. Ob ihr Vater sie angefasst habe, fragten Ermittler die damals fünfzehnjährige Tochter - bevor sie ihr von seinem Tod berichteten. Der Mutter legte man das Bild einer angeblichen Affäre ihres Mannes vor. Sie solle doch endlich gestehen, ihn selbst erschossen zu haben. Die Affäre erfanden die Ermittler, um psychischen Druck auszuüben, wie sich später herausstellte. Jahrelang musste die Familie Boulgarides nicht nur den Tod des Vaters verkraften, sondern auch gesellschaftliche Ausgrenzung ertragen. Die Kinder wurden in der Schule gemobbt, die Frau verlor ihre Arbeit. "Man hat die Familie in den Schmutz gezogen und versucht bis heute das zu rechtfertigen", sagt Narin.

Deutliche Hinweise auf einen rechtsextremistischen Hintergrund ignorierte man. Eine Begründung: die Brutalität der Täter sei "atypisch für den deutschen Kulturkreis." Stattdessen, und hier wird es grotesk, zogen die Ermittler Aussagen von Wahrsagern zu Rate, die im Rauschen leerer Audiokassetten Hinweise auf einen ausländischen Täter erkannt haben wollten.

Bereits Anfang 2014 fand in Dachau ein Gespräch in gleicher Konstellation statt. Was sich seitdem vor allem geändert hat, erklärt Narin, ist die öffentliche Wahrnehmung. Vieles, was die Staatsanwaltschaft noch zu Beginn des Prozesses als "Irrlichter" und "Fliegengesumme" der Nebenkläger bezeichnete, sei heute Mainstream. So waren sich Andreasch und Narin schon vor drei Jahren einig, dass die These von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe als isoliert agierende Zelle nicht haltbar sei. Heute gibt es dafür noch mehr Belege, erklärt Narin. "Viele Helfer haben im Prozess gestanden, den NSU unterstützt zu haben." Über den V-Mann Ralf Marschner beispielsweise ist mittlerweile bekannt, dass er Uwe Mundlos in seiner Firma unter einem Alias-Namen beschäftigt hatte. Jener Ralf Marschner, der unmittelbar nach Auffliegen der Terrorzelle auf seiner Facebook-Seite "Heil NSU" postete. Jener Ralf Marschner, dessen Fahrzeug nachweislich an zwei Tatorten der Terrorzelle gewesen ist. Erst 2016 sind Kopien der Akten zu Marschner wieder aufgetaucht. Ein klares Ja also auf die Frage von Moderator Klaus Schultz, ob man heute mehr wisse.

Wenn Narin von der jahrelangen Blockadehaltung der involvierten Behörden berichtet, - von Zeugen, die plötzlich "vernehmungsunfähig erkrankten", von Akten, die durch "Missverständnisse" in den Schredder wanderten oder dem Hochwasser zum Opfer fielen - tut er das verbittert ironisch. Gleichzeitig bekräftigt er aber: "Wenn ich nicht den festen Glauben an die Rechtsstaatlichkeit hätte, säße ich nicht hier." Richter Götzl bescheinigt er mittlerweile "eine sehr ordentliche Arbeit." Zu Beginn des Prozesses habe ihn das Gericht noch als "Störenfried" wahrgenommen. Das hat sich im Laufe des Prozesses geändert, bestätigt auch Andreasch. Heute verteidigt Narin den Richter gegen den Vorwurf, sich trotz der neuen Erkenntnisse nicht ausreichend um die Aufklärung der Hintergründe zu bemühen. "Das Gericht ist an die Anklageschrift gebunden", erklärt Narin auf Nachfrage aus dem Publikum und bekräftigt damit seine Kritik an der Bundesanwaltschaft, den Prozess möglichst klein halten zu wollen. So zeigt er sich auch wenig optimistisch, dass die Verstrickungen der vielen V-Männer im Hintergrund der Terrorzelle jemals vor Gericht verhandelt werden. "Die juristische Aufklärung ist vorbei, bevor viele Fragen gelöst sind", beklagt Andreasch angesichts des baldigen Prozessendes.

"Ich will die Wahrheit" lautete das Motto an diesem Abend in Dachau, an dem auch die Tochter von Theodoros Boulgarides im Publikum saß. Einiges hat man herausgefunden. Vollständige Aufklärung jedoch, das wurde deutlich, wird auch der Urteilsspruch nicht bringen.

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