Schlosskonzert:Unerhört klar und hoch

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Zwölf Männer begeistern die Dachauer mit ihrem Gesang

Von Adolf Karl Gottwald, Dachau

"Perfektion" ist das Wort, das auf das Vokalensemble "Chanticleer" aus San Francisco in idealer Weise passt. "Chanticleer" ist eigentlich der angeblich in aller Klarheit singende Hahn in "The Canterbury Tales" von Geoffrey Chaucer aus dem 14. Jahrhundert. Der kräht oder singt zwar schon seit beinahe 700 Jahren nicht mehr, aber er hat einem zwölf-stimmigen Vokalensemble der besonderen Art seinen Namen gegeben. Und worin liegt die besondere Art? "Chanticleer" ist ein Vokalensemble von sechs Oberstimmen - herrliche Sopran- und Altstimmen - und sechs Unterstimmen - drei elegante Tenöre und drei profunde Bässe. Was ist daran besonders? Alle Stimmen werden von Männern gesungen, selbst der Sopran in höchsten Höhen. In der Barockoper war das nichts Besonderes, dort stehen selbst die größten männlichen Rollen in der Sopranlage. Julius Cäsar etwa ist bei Händel eine Sopranpartie. Dafür hatte man Kastraten. Bei "Chanticleer" aber singen sechs Männer, die vermutlich nicht kastriert sind, in den höchsten Tönen.

Man hat vor einigen Jahrzehnten damit begonnen, Männerstimmen so zu trainieren, dass sie in der Tonlage der Frauenstimmen singen können und sogenannte Countertenöre und Altus-Sänger herangebildet. Diese Stimmen erreichen aber ihre Vorbilder, den von Frauen gesungenen echten Sopran oder Alt nicht ganz, und die Kastraten, die außerordentlich schön und ausdrucksvoll gesungen haben sollen, überhaupt nicht. Die Oberstimmen-Sänger von "Chanticleer" aber haben es geschafft. Ihre Stimmen klingen wie echte Soprane, vielleicht sogar wie einst die der Kastraten.

Dieses erstaunliche, wahrhaft außergewöhnliche Ensemble trat bei den Dachauer Schlosskonzerten mit einem sehr abwechslungsreichen Programm mit Werken aus sechs Jahrhunderten auf. Begonnen hat es mit lateinischen Kirchengesängen aus dem 16. Jahrhundert. Der bekannteste Name ist Palestrina. Hier hatten die Oberstimmen Knabenstimmen zu ersetzen, denn damals galt noch die Regel "Mulier tacet in ecclesia", was bedeutet, dass Frauen in der Kirche nichts zu sagen und auch nichts zu singen haben. Gesangsdarbietungen dieser Art sind auch bei uns nicht selten, sei es von Knabenchören oder Ensembles mit Countertenören. Dass aber fünf Männer einen Kreis bilden und einen fünfstimmigen Frauenchor lupenrein zum Besten geben - das ist doch etwas Unerhörtes.

Aufregend interessant wurde das Singen, als sich "Chanticleer" moderner Musik widmete und mit Dissonanzen stark durchsetzte Klänge sowie eigentlich unsangliche Intervalle so sauber und eben perfekt wie vorher harmonische Musik sang. An dieser Stelle wurde der Abend aber auch problematisch, denn man konnte von dem Gesungenen kein Wort verstehen. Eine "Hommage à Edith" nach einem wohl mehrteiligen Gedicht von Edith Södergran führte musikalisch ins 21. Jahrhundert, doch was der vermutlich finnische Text zu sagen hat, blieb unergründlich. Man konnte selbst den Anfang und das Ende dieser Komposition nur erahnen. Erst bei einem Song von Stephen Foster bekam man als Zuhörer wieder Boden unter die Füße.

Bisweilen sang "Chanticleer" nur Vocalisen, darunter die bekannte Vocalise von Sergej Rachmaninow. Dabei entwickelte sich der Klang der zwölf Vokalstimmen zum Klang eines vollen Orchesters mit Tönen, die nur dem Kontrabass möglich sind, bis hinauf zu den Höhen der Piccoloflöte. Das hat dem Ensemble den bewundernden Titel "Orchestra of Voices" eingetragen. Ins äußerst Virtuose führten die von "Chanticleer" 1997 in Auftrag gegebenen "Love Songs", darunter die Erkenntnis, dass die Liebe der Frauen eine liebliche und zugleich fürchterliche Sache sei, was als übermütige Lachnummer dargestellt wurde. Bei "Popular Songs" konnte man sich entspannt wohlfühlen, denn hier gab es keine Verständnis-Barrieren zu überwinden. Die Chirurgie leistet heutzutage Großartiges. Wie locker etwa Gelenke ausgebaut und Ersatzteile eingefügt, Schwerverletzte wieder zusammengeflickt werden, ist bewundernswert. Aber was hier im Gesang ohne Chirurgie - sprich Kastration - geleistet wird, ist kaum weniger zu bestaunen.

© SZ vom 20.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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