Sagen und Mythen: SZ-Serie, Folge 4:Der Tote im Baumstamm

Wo einst die Fasane für Kurfürst Max Emanuel gezüchtet wurden, starb ein Soldat Napoleons im Inneren einer mächtigen Eiche. Das Skelett stand dort vollkommen aufrecht im Garten von Schloss Lustheim, bekleidet mit einem Käppi, bewaffnet mit einer Muskete. Ein Rätsel bis heute

Von Sabine Wejsada, Oberschleißheim

Kein elektrisches Licht, das finstere Nächte erhellte, keine Naturwissenschaften, die unheimliche Phänomene hätten erklären können - kein Wunder, dass die Menschen früherer Zeiten versuchten, mit Geschichten zu erklären, was sie ängstigte. Auch historische Ereignisse wurden als Geschichten weitererzählt, oft ausgeschmückt und verfremdet. So entstand über die Generationen ein reicher Schatz an Sagen, Mythen und Legenden. Einige davon werden nun in der SZ nacherzählt.

Den Baum gibt es längst nicht mehr, obwohl im weitläufigen Schlosspark noch immer unzählige mächtige Eichen stehen. Und wo sind die Gebeine des Toten, die in einem solchen Baum gefunden wurden? Otto Bürger, Ortschronist von Oberschleißheim, schüttelt den Kopf; er ist sich nur in einem ganz sicher: "Die Leichen der gefallenen Franzosen wurden alle in die Heimat überführt." Was aber aus dem Soldaten Napoleons geworden ist, der in einem Baum gestorben ist und dessen Skelett um 1830 in einer hohlen Eiche gefunden wurde, weiß man nicht so genau. Der mächtige Baum stand unweit der herzöglichen Fasanerie Schleißheim. Von den Gebäuden und Gehegen ist nichts mehr übrig, sie sind am Ende des Zweiten Weltkriegs abgebrannt.

Dort, wo zu Zeiten von Max Emanuel für den Hof und seine Gesellschaften die Fasane aufgezogen wurden - wahlweise um das Federtier bei Jagdgesellschaften rund um das Schloss Lustheim selbst zu erlegen oder sie sich von den höfischen Köchen zubereitet bei Tisch schmecken zu lassen - erinnert heute nichts mehr an die besondere Nutzung des Geländes von damals. Eichen aber gibt es immer noch. Stattliche, die in den Himmel wachsen, und solche, die vor langem umgestürzt sind und als Totholz in den Wäldern liegen und Insekten Schutz und Lebensraum bieten. Könnte schon sein, dass die eine oder andere umgeworfene Eiche vielleicht sogar noch aus der Zeit stammt, als Napoleon in Schleißheim Station machte mit seinen Soldaten.

Einer davon soll sein Leben nicht im Kampf gelassen haben. Er starb in einer Eiche. Ungemein groß soll diese gewesen sein. Mächtig geradezu, mit einem Umfang von zehn Metern, wie Otto Bürger erzählt. Vermutlich hatte ein gewaltiger Blitz bei einem Unwetter den Baum in zwei Teile geschlagen. Und was dann zum Vorschein kam, war gruselig - für den damaligen Förster und die herbeigeilten Anwohner: Im hohlen Stamm stand ein Skelett, vollkommen aufrecht. Die Füße und Unterschenkel des Gerippes steckten in hohen, beinahe vollständig erhaltenen Schaftstiefeln; der Schädel war mit einem Käppi bedeckt, und Waffen hatte der Tote auch dabei: eine Muskete mit aufgepflanztem Bajonett. Dabei handelt es sich um ein schweres, langes Vorderladergewehr mit glattem Lauf.

"Man kann sich denken, wie dieser Fund die Menschen damals geschreckt hat", sagt Otto Bürger und zeigt an diesem kalten Wintertag im Schlosspark auf einen umgefallenen und gespaltenen Baum, freilich eine Eiche, die da im Unterholz liegt. Eine unheimliche Vorstellung, ein Toter im Stamm. Bürger hat zum ersten Mal vor etwa 20 Jahren von Napoleons Baum-Soldaten gelesen. Und zwar in einem 1908 erschienenem Buch "Die größten, ältesten oder sonst merkwürdigen Bäume Bayerns in Wort und Bild" von Friedrich Stützer.

Die Aufzeichnungen des Baumfotografen sind dem Oberschleißheimer Ortschronisten zufällig in die Hände gefallen. Und bis heute wundert auch er sich, wie der Soldat wohl in die Eiche geraten ist: Hat er ein Versteck gesucht, ist auf den Baum geklettert und dann zwischen den beiden Hauptästen durchgebrochen und in den morschen Stamm gerutscht? Konnte er sich nicht mehr befreien und ist erstickt? Oder gehörte er etwa einem afrikanischen oder amerikanischen Stamm an, dessen Ritual es ist, die Toten, in Hängematten genäht, aufrecht in hohlen Bäumen zu beerdigen? Auch das habe man sich damals in Schleißheim erzählt, sagt Bürger beim Spaziergang durch den Schlosspark mit seinen Geheimnisse bergenden Eichen. Was sie wohl noch alles in sich tragen?

Im Jahre 1830

Im 19. Jahrhundert wurde nach einem fürchterlichen Unwetter in der Gegend um Schleißheim eine grausige Entdeckung gemacht. Es war das Jahr 1830, als in einer sturmgefällten Eiche sich dem Betrachter ein nicht alltägliches Bild bot: Wo sich zweieinhalb Meter über dem Boden der Stamm in zwei Teile spaltete, lag in dem verfaulten Holzmull ein Gerippe, samt Schaftstiefeln, Muskete und Bajonett. Es stammte alles von einem Angehörigen der Armee Napoleons. Wie er in den Baum gekommen war? Keiner weiß es genau; aber man vermutet, dass er beim Versuch, etwas auszukundschaften auf die Eiche geklettert war, dort in das morsche Holz eingebrochen und in den Innenraum des Stammes hinabgerutscht war. Von dort konnte er sich, verletzungsbedient oder weil er keine Luft mehr bekam, nicht mehr befreien und kam ums Leben. sab

Die Oberschleißheimer jedenfalls können noch ganz andere Geschichten erzählen - von Geistern, verirrten Seelen. So soll es lange Zeit im Schloss Lustheim gespukt haben. Oder sogar immer noch spuken, wie Otto Bürger augenzwinkernd sagt. Wer weiß, vielleicht findet ja auch der arme Soldat aus der Eiche seine Ruhe nicht und wandert durch das Obergeschoss im Nordflügel des Schlosses. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedenfalls erzählte man sich im Dorf von geheimnisvollen Vorgängen in den Gemächern. Menschen, deren Häuser von Bomben zerstört wurden, waren im Schloss Lustheim untergebracht. Und berichteten von Furcht einflößenden Begebenheiten.

So sollen laut Bürger Gespenster die Räume und deren Besucher heimgesucht haben. Immer wieder waren deutlich vernehmbare Schritte auf den 40 Holzstufen hinauf ins Obergeschoss zu hören, obwohl niemand auf den Treppen unterwegs war, weil sich alle im Zimmer aufhielten. Wehende Vorhänge an den Fenstern, obschon sie geschlossen waren und auch keine Tür offen stand. "Geheuer war es nirgends mehr. Bis hinauf in den langen Saal unter dem Dach machten sich körperlose Wesen bemerkbar, bei Tag und Nacht, im Winter häufiger als im Sommer", beschreibt Heimatforscher Bürger die Vorgänge im Schloss Lustheim. Manchmal sollen die Geister auch geflüstert oder sogar Teetassen platziert haben. "Himmelangst" war den Bewohnern. Einen "mysteriösen Blutfleck" soll es auch gegeben haben: "Zwei Hand groß, verunzierte er den hellen Riemenboden", sagt Bürger. Ob es sich dabei um Blut von den gestorbenen Soldaten Napoleons handelte, deren Geister dort herumspukten? Oder gar um den des Baum-Gerippes? Wer weiß.

Heute ist Schloss Lustheim die Spuk-Vergangenheit nicht mehr anzusehen. Prächtig hergerichtet, beherbergt es die Meißener Porzellan-Sammlung Stiftung Ernst Schneider. Von schwebenden Tassen ist nichts bekannt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: