Jugendliche Flüchtlinge:Shahzadas Flucht ins Leben

In Afghanistan versorgt der Junge nach der Ermordung seines Vaters durch die Taliban die ganze Familie. Nach seiner Flucht lebt er nun in Odelzhausen in einer Wohngruppe der Kolping-Akademie für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Von Anna-Sophia Lang, Odelzhausen

Wenn Shahzada Reis kocht, spannt er ein Tuch zwischen Topf und Deckel. Typisch afghanisch, so hat er es gelernt. Shahzada kocht gern, eigentlich jeden Abend. Reis oder Kartoffeln, manchmal Nudeln, Gemüse und Hühnchen. Heute macht ihm das Freude. Damals, daheim, war es ein Muss. Shahzada, der große Bruder, musste arbeiten, Geld verdienen für die Familie, die Mutter und die jüngeren Schwestern. Sein Vater ist tot. Ermordet von den Taliban, die seine Heimatstadt kontrollieren. Tot und Taliban. Die zwei Worte, die er am häufigsten sagt, wenn er von daheim erzählt. Und: "Keine Schule." Shahzada ist 18, aber lesen und schreiben kann er erst seit Kurzem. Irgendwann wurde es zu viel. Die permanente Bedrohung, die Gewalt, die fehlende Zukunft. Shahzada floh. Er schaffte es nach Deutschland, kam nach Dachau, seit zwei Monaten lebt er in Odelzhausen. Im Juli hat die Kolping-Akademie dort, im ehemaligen Schlosshotel, ihre erste Einrichtung für junge Geflüchtete im Landkreis eröffnet.

"Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge", nennt das deutsche Recht Menschen wie Shahzada. Ihr besonderer Schutz ist in der UN-Kinderrechtskonvention verankert und in der EU-Aufnahmerichtlinie geregelt. In Deutschland sind die Jugendämter für sie zuständig. 11 232 junge Flüchtlinge sind laut Sozialministerium in Bayerns Jugendhilfeeinrichtungen registriert, also 17,5 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen in ganz Deutschland. 67 davon leben im Landkreis, teils liegt die Zuständigkeit beim Jugendamt Dachau, teils bei Jugendämtern anderer Landkreise. Die Flüchtlinge erhalten Jugendhilfe nach dem Sozialgesetzbuch. "Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit", heißt es dort.

Genau das ist das Ziel der Kolping-Akademie. "Unser Job ist nicht nur, die Jugendlichen zu beherbergen, sondern sie auf das Leben vorzubereiten", sagt Frank Jelitto, stellvertretender Geschäftsführer des Bildungswerks. "Wir versuchen sie in die Gemeinde, ins Dorfleben zu integrieren, ob über den Fußballverein oder ein Praktikum. Wir wollen keinen Exotenstatus kultivieren." Die Kolping-Akademie hat Erfahrung. 2014 wurde in Kaufbeuren die erste Wohngruppe für junge Flüchtlinge eröffnet. Die Jugendlichen bekommen auch während der Ferien Deutschunterricht, Berufsorientierung ist integriert. Die Pädagogen sollen sie durch die tägliche Zusammenarbeit so gut kennenlernen, dass anschließend für jeden die passende Berufsausbildung gefunden wird. "Tagesstrukturierendes Angebot", nennt Jelitto das Programm, für dessen Finanzierung die Kolping-Akademie Zusatzvereinbarungen mit dem Jugendamt Dachau geschlossen hat. Von September an werden einige der Odelzhausener Jugendlichen in die Berufsschule Dachau gehen.

Jugendliche Flüchtlinge: Tod und Gewalt gehörten zum Alltag der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus Krisenländern. Sie brauchen eine besondere Betreuung.

Tod und Gewalt gehörten zum Alltag der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus Krisenländern. Sie brauchen eine besondere Betreuung.

(Foto: Robert Haas)

Acht Plätze gibt es in der neuen Unterkunft, sechs Jugendliche leben bereits dort. Vier kommen aus Afghanistan, zwei aus Syrien. Gemeinderätin Ursula Kohn (BGO) hat das Gebäude mit einer Laufzeit von vier Jahren zur Verfügung gestellt. Vier Stellen wurden bei der Kolping-Akademie für das Projekt geschaffen. Kohn übernimmt den hauswirtschaftlichen Teil. Die Einrichtung ist rund um die Uhr besetzt, auch am Wochenende, damit die jungen Flüchtlinge nie allein sind. Der Jüngste ist gerade einmal 15, Shahzada ist mit 18 der Älteste.

"Wir müssen viel miteinander reden", sagt Kohn. Die Jungs beginnen meist selbst von ihren Erlebnissen zu erzählen, ausgelöst von einem Foto in der Zeitung oder einem Blick auf die Landkarte, auf der sie ihre Heimatorte zeigen. Frank Jelitto hat bei der Arbeit mit ihnen gelernt, dass viele erst einmal nur schlafen, wenn sie endlich in Sicherheit sind. Und sich dann ganz unterschiedlich öffnen. "Der erste redet am ersten Tag, der andere nach drei Wochen, der nächste nach sechs Monaten." Ab und zu wacht einer nachts auf und kann nicht mehr schlafen. "Dann trinkt man einen Tee und redet", sagt Kohn. Die Gruppe hat sich eingelebt, so gut es geht. Die Jungs sprechen zunehmend Deutsch miteinander. Die Sprache des neuen Landes verbindet sie miteinander. "Ab und zu braucht einer eine Umarmung", sagt Kohn. Irgendwann, das erlebt Jelitto immer wieder, nennen sie die Mitarbeiterinnen "Mama".

Psychologen sind nicht täglich in den Kolping-Einrichtungen, dafür fehlt das Geld und das Personal. Es gibt ein Kriseninterventionsteam und einen psychologischen Dienst. Schwer traumatisierte oder Suizid gefährdete Jugendliche, sagt Jelitto, müssten eigentlich in psychiatrischen Einrichtungen behandelt werden. Doch davon gibt es viel zu wenige. Deshalb plädiert er dafür, dass spezielle Traumaeinrichtungen geschaffen werden. Auch im Landkreis Dachau wünscht er sich eine.

Kolping Heim

"Unser Job ist nicht nur, die Jugendlichen zu beherbergen, sondern sie auf das Leben vorzubereiten", sagt Frank Jelitto von der Kolping-Akademie.

(Foto: Niels P. Joergensen)

In Afghanistan geht es vielen Kindern wie Shahzada. Sie müssen arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen, und immer mehr Schulen müssen wegen des Terrors der Taliban schließen. Schutz gefunden hat Shahzada ausgerechnet in dem Land, das in Zukunft mehr Asylsuchende nach Afghanistan abschieben will, aber gerade den Einsatz seiner Armee dort auf unbestimmte Zeit verlängert hat. Auch Amir kommt aus dem Kriegsland wie die meisten minderjährigen Flüchtlinge in Bayern. Auch er hat noch nie eine Schule besucht, obwohl er schon 17 ist. Auch sein Vater ist tot. Die Biografien der Jugendlichen gleichen sich. Ein paar Mal in der Woche telefoniert Amir mit seiner Mutter, die wie vier Millionen andere Afghanen mit den Geschwistern in den Iran geflüchtet ist. Dort sind sie Bürger zweiter Klasse. "Sie ist immer traurig."

Amir gibt sich cool, stützt die Arme lässig auf. Er trägt eine Sportjacke, seine Haare hat er rot getönt. Dass so selten ein Bus nach Dachau fährt, nervt ihn, vor allem am Wochenende. Er leidet unter der Trennung von seinen Freunden, die an anderen Orten untergebracht sind. Wieder hat er Vertrauenspersonen verloren, muss sich neu eingewöhnen. Aber über eines freut er sich: dass er lernen darf, endlich. "Schule", sagt er und grinst, "ist immer gut."

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