NS-Verbrechen:Schützlinge ohne Schutz

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Während des Kriegs wurden Hunderte Behinderte aus Schönbrunn getötet - nun müssen sich die Franziskanerinnen dort den Verstrickungen ihrer Einrichtung in NS-Verbrechen stellen.

Martin Bernstein und Wolfgang Eitler

Johannes D. kann sich nicht konzentrieren. Er ist unruhig, hat seine Bewegungen nicht unter Kontrolle - Spätfolgen einer Gehirnentzündung mit fünf Jahren. Mit 15 Jahren kommt er 1939 nach Schönbrunn. Tausend Menschen mit geistiger Behinderung leben dort in der Anstalt der Franziskanerinnen-Kongregation "Dienerinnen der Göttlichen Vorsehung". Ein Jahr später vermerkt der Anstaltsarzt im Meldebogen: Johannes sei "zur Ausbildung" in Schönbrunn. Danach sei mit seiner Entlassung zu rechnen. Weitere neun Monate später ist Johannes tot, als "unwertes Leben" ermordet in Hartheim bei Linz, nachdem er zuvor von Schönbrunn nach Eglfing-Haar deportiert worden ist.

"Aussprechen, was weh tut": Vor 17 Jahren haben die Franziskanerinnen von Schönbrunn begonnen, die eigene Historie aufzuarbeiten. (Foto: dpa)

Als Benigna Sirl in Aiglsbach bei Kelheim zur Welt kommt, ist Johannes D. seit neun Jahren tot. Sie ist heute die Generaloberin der Franziskanerinnen von Schönbrunn im Landkreis Dachau. Vor einer Woche haben dort bei einem Symposium Historiker berichtet, was sie in den Archiven des Ordens über die Verstrickungen der Behinderteneinrichtung in das "Euthanasie"-Mordprogramm der Nationalsozialisten gefunden haben. Eine "Zwischenbilanz", die die Generaloberin erschüttert. Und doch müssen sie und ihre 96 Mitschwestern den Schock über diesen Teil ihrer hundertjährigen Geschichte in Schönbrunn aushalten.

1994 haben sie sich ein neues Leitbild gegeben: "Ein Leben in Würde" wollen sie ermöglichen. "Nicht von ungefähr aus dieser Geschichte", sagt Schwester Benigna. "Das ist unsere Antwort. Auch weil die Würde mit Füßen getreten wurde." Die Würde von Johannes D., die Würde von 901 behinderten Menschen, die zwischen 1939 und 1944 deportiert wurden, nach Eglfing-Haar oder in andere staatliche Einrichtungen "verlegt", wie es in den Akten heißt. Nur 293 von ihnen haben nach den Recherchen der Münchner Historikerin Tanja Kipfelsberger das Kriegsende überlebt.

Für Benigna Sirl ist es kaum auszuhalten, dass nach der Deportation von 44 Kindern am 2. Juni 1944 in Schönbrunn kein behinderter Mensch mehr lebte. Dass Prälat Josef Steininger, der über Jahrzehnte hinweg der geistliche und wirtschaftliche Leiter der Einrichtung war, schon vor 1940 mit den stramm nationalsozialistischen Gesundheitsbehörden kooperierte. Und dass er für den Fortbestand der Schönbrunner Einrichtung - Benigna Sirl schweigt lange, ehe sie den Satz ausspricht - "einen hohen Preis bezahlt hat: Den Preis, dass ganz viele weg mussten und ermordet wurden."

Sie und ihre Mitschwestern müssen aushalten, dass sich Steininger, den viele der Schönbrunner Franziskanerinnen noch persönlich kannten und der 1965 mit dem Ehrentitel eines päpstlichen Hauskaplans starb, in einer 30-seitigen Schrift zum Widerstandskämpfer hochstilisiert hat. "Wir kannten keine andere Geschichte", sagt Schwester Benigna. Seit 40 Jahren lebt sie in Schönbrunn: "Das ist meine Familie hier."

66 Jahre sind seit der letzten Deportation vergangen

Und nun, nach 40 Jahren, kommen Fachleute und Benigna Sirl sitzt dabei, als sie nachweisen: Der Familienpatriarch hat gelogen. Der "Großvater" - diesen Vergleich zieht Benigna Sirl. Der Mann, nach dem die Hauptstraße benannt ist, die durch Schönbrunn führt. Von dem ältere Schwestern erzählen, dass er sie Patientenakten zu Gunsten bedrohter Schützlinge manipulieren ließ. Der Patienten rettete, indem er sie zu Hilfsarbeitern oder Hausbediensteten erklärte. Der nach dem Krieg Schönbrunn erneut zu einem Zentrum der Behindertenarbeit machte. Eine zerrissene Biografie. Zerreißt sie die Gemeinschaft, die das jetzt auszuhalten hat?

Eine Antwort auf diese Frage ist die historische Forschung: Im Rahmen des Kolloquiums hat sich Professor Franz Xaver Bischof zu Wort gemeldet, der Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität München, wie Domkapitular Lorenz Kastenhofer sagt, der im Erzbischöflichen Ordinariat das Ordensreferat leitet und selbst Zuhörer der Schönbrunner Tagung war. Bischof habe "eine Diplomtheologin an der Seite, die aus kirchengeschichtlicher Sicht mit der Durchsicht der Dokumente im Blick auf Prälat Steininger und seine Funktion als Direktor von Schönbrunn beginnen soll".

66 Jahre sind vergangen seit der letzten Deportation aus Schönbrunn. Vor 13 Jahren kündigte Benigna Sirl im SZ-Gespräch an: "Wir wollen das historisch aufarbeiten lassen und dokumentieren, um endlich einmal ein Wissen zu haben, was da eigentlich passiert ist." Doch das dauerte. Denn zunächst einmal musste eine Schwester der Kongregation als Ordensarchivarin ausgebildet werden.

"Aussprechen, was weh tut"

Von Mitte 2003 an wurde das Archiv mit Findbuch erstellt. Erst 2005 begann die wissenschaftliche Aufarbeitung durch das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität München und das Institut für neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität. Kastenhofer verweist auf die Öffnung des Kardinal-Faulhaber-Archivs im Jahr 2002 und sagt: "Insofern befindet sich die Erzdiözese in einer guten Tradition, die auch im Blick auf Schönbrunn fortgesetzt wird."

Vielleicht, sagt Benigna Sirl, werde sie einmal mit dem 1965 gestorbenen Steininger reden. "Nicht spiritistisch - spirituell. Aussprechen, was weh tut, dem Schmerz eine Stimme geben." Dem Schmerz über die Ermordung so vieler Schönbrunner Schützlinge, die Schönbrunn nicht schützte. Dem Schmerz über den Mord am 17-jährigen Johannes D. in der Tötungsanstalt Hartheim.

Seit 150 Jahren gibt es die Schönbrunner Einrichtung, seit 100 Jahren die Franziskanerinnen dort. Das Doppeljubiläum steht unter dem Motto: "Gemeinsam für das Leben". Die Veranstaltungen tragen Titel wie "Von Herzen froh" und "Das Leben ist schön", aber auch "Das Dunkle zum Licht bringen". Am 25. März 2011 - 70 Jahre, nachdem Johannes und 176 weitere Pfleglinge aus Schönbrunn deportiert wurden - werden sich Mitarbeiter und Bewohner gemeinsam erinnern. Im Schönbrunner Franziskuswerk des Jahres 2010 leben 31 Menschen, die 80 Jahre und älter sind. Johannes D. hätte einer von ihnen sein können. Er wäre heuer 86 geworden.

© SZ vom 06.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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