Neue Seiten für das Gedächtnisbuch:Vorbilder

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Schüler aus ganz Bayern und ein pensionierter hessischer Politiker präsentieren im Kloster Karmel in Dachau ihre Recherchen über Menschen, die im Konzentrationslager leiden mussten

Von Christiane Bracht

Das Gedächtnisbuch wächst. Mehr als 200 Blätter hat die Organisatorin Sabine Gerhardus schon gesammelt. Auch in diesem März sind wieder elf neue Einträge dazugekommen. Elf bestürzende Schicksale von Menschen, die unglaubliche Qualen im Konzentrationslager Dachau erlitten haben, die - sofern sie überhaupt überlebt haben - immer damit zu kämpfen hatten. Menschen, die schon fast vergessen waren, und jetzt durch akribische und zum Teil auch sehr langwierige Recherchen einiger Freiwilliger wieder ein Gesicht bekommen haben und nicht mehr nur eine Häftlingsnummer sind. "Unsere Aufgabe ist es ihre Geschichten weiterzuerzählen", sagt Diakon Klaus Schultz anlässlich der Präsentation der Blätter. Im Publikum sitzen nicht nur Honoratioren, sondern auch einige Verwandte der verstorbenen Häftlinge, viele Schüler sind da und sogar Flüchtlinge. Selbst das japanische Fernsehen ist mit großen Kameras gekommen und filmt. Eine erstaunlich bunte Mischung.

Durch die Gedächtnisblätter erhalten die Verfolgten des NS-Regimes wieder ein Gesicht. Es wird nachvollziehbar, was sie erleiden mussten. (Foto: Toni Heigl)

Die wohl bemerkenswerteste Entdeckung der vergangenen Monate trägt der frühere hessische Innenminister Gerhard Bökel vor. Unter den vielen Juden und politisch Gefangenen, die die Nazis ins Konzentrationslager Dachau schleppten, hat sich auch ein Imam befunden. Abdelkader Mesli. "Er kam mit dem Train fantôme (Geisterzug) aus Frankreich - einer der letzten Transporte ins KZ Dachau", berichtet Bökel. Im Ruhestand hatte der SPD-Politiker angefangen, in Südfrankreich Geschichte zu studieren. Als er von Mesli hörte, wollte er mehr wissen. Erst nach dem Tod von Meslis Frau fanden die Kinder Dokumente, die belegen, dass der Imam im Geisterzug war. Zuvor wusste niemand von seiner Vergangenheit. Er hatte nie darüber gesprochen. Umso erstaunlicher ist, was die Spurensuche ergeben hat: Mesli war in der Résistance. "Er war als Vertreter der Moschee entsandt, um muslimische Gefangene zu betreuen. Mehr als 90 Lager hat er deshalb besucht, in denen Arbeiter den Atlantikwall bauen mussten. Viele waren aus den Maghreb-Staaten", erzählt Bökel. Aber Mesli kümmerte sich nicht nur um seine Glaubensbrüder, sondern auch um Juden. Er half ihnen, eine muslimische Identität zu bekommen, um sie so vor den Nazis zu schützen. Das geht aus einem Vermerk des französischen Außenministeriums hervor. "Er führte ein irrsinniges Doppelleben", begeistert sich Bökel über den Mann, dessen Leben er seit vielen Monaten zusammen mit dem Sohn Mohammed erforscht. "Es gibt kistenweise Dokumente, die noch lange nicht ausgewertet sind. Ich habe das große Glück, dass Mohammed mich teilhaben lässt", sagt Bökel.

Die Schüler sind beeindruckt von dem, was sie über die Häftlinge erfahren haben. (Foto: Toni Heigl)

Zur Präsentation des Gedächtnisblatts über seinen Vater ist Mohammed Mesli extra aus Frankreich nach Dachau gekommen - zum ersten Mal übrigens. Der Ort, an dem sein Vater so gelitten hat, berührt ihn sichtlich sehr. Anfang Juli 1944 wurde Vater Abdelkader festgenommen. Mit etwa 500 anderen Gefangenen zwang man ihn in den Zug, der zwei Monate lang über Paris, Toulouse und Bordeaux durch Frankreich irrte und erst Ende August in Dachau ankamen. Für die Überlebenden war es ein Martyrium, das im KZ seine Fortsetzung fand. Mesli wurde erst im Mai 1945 befreit. "Es ist sehr schwierig in Worte zu fassen, was ich fühle", sagt Sohn Mohammed. "Es tröstet mich sehr, wenn ich sehe, was für eine tolle Arbeit die Schüler und Gerhard hier machen. Und der Fakt, dass ein Imam jemanden gerettet hat, ist schön zu sehen, besonders vor dem aktuellen Kontext."

Mohammed Mesli ist zur Präsentation über seinen Vater erstmals aus Frankreich nach Dachau gereist. (Foto: Toni Heigl)

Schüler vom Camerloher Gymnasium in Freising hatten sich im Rahmen eines W-Seminars eineinhalb Jahre lang mit verschiedenen Häftlingen befasst, die im KZ Dachau die schlimmste Zeit ihres Lebens hatten. "Er hat nicht weit von mir weg gewohnt", sagt Nina Augustin, die sich auf die Spuren von Fuhrunternehmer Anton Held aus Hohenkammer gemacht hat. Zusammen mit Bruder Thomas und Freunden, die als radikale Anhänger der Kommunistischen Partei (KPD) galten, soll Held eines nachts mit roter Farbe Hammer und Sichel auf die Straße gemalt haben. Hinzu kam offenbar noch eine Rauferei mit einem SA-Angehörigen, die mit einer Anklage wegen schwerer Körperverletzung endete. Die Nazis legten ihm zudem zur Last, er habe Flugblätter verteilt und "Wer Hitler wählt, wählt den Krieg" hinausposaunt. Held wurde verhaftet. Einige Monate musste er im KZ Dachau ausharren. Seine Freunde hatten ein ähnliches Schicksal. Unter ihnen war auch Korbinian Geisenhofer, der später heftige gesundheitliche Probleme bekam und 1991 an Krebs starb. Die Familie sagt, die Zeit im KZ sei der Grund dafür gewesen, berichtet Maxime Häcker. Die Schüler fanden auch heraus, dass die Nazis den früheren SPD-Fraktionsführer und Stadtrat Ferdinand Zwack in die Knie zwangen. "Er war sehr engagiert in der Kommunalpolitik", sagt Emilia Jackermaier. Er rief 1919 in Freising die Räterepublik aus. Den Nazis war er ein Dorn im Auge und so nahmen sie ihn 1933 gefangen. Neun Tage wurde er im Dachauer KZ misshandelt. Danach zog er sich ins Privatleben zurück. Nur elf Jahre später starb er.

Anfang Juli 1944 wurde Imam Abdelkader Mesli festgenommen. (Foto: oh)

Aber es sind nicht nur politisch Aktive, mit denen sich die Schüler befasst haben. Es sind auch einfache Handwerker dabei, tiefgläubige Menschen, sogar ein Pater war darunter und Leute, bei denen es völlig unklar ist, warum sie überhaupt verhaftet wurden. "Es war sehr interessant", sagt Maria Gross. Sie hat sich mit dem Pater Albert Eise beschäftigt. "Für mich ist er ein Vorbild, wie man mit Leid und Tod umgehen kann", sagt sie beeindruckt. "Er war immer im Vertrauen auf Gott, der wieder Gutes geschehen lässt." Der Pater mit Häftlingsnummer 28660 starb im September 1942 im KZ an Hunger und Krankheit. Von Februar 1942 an musste er beim Plantagenkommando harte körperliche Arbeit verrichten bis er im August auf dem Appellplatz mit 40 Grad Fieber zusammenbrach. Zuvor hatte Eise im Geheimen eine Schönstattgruppe aufgebaut, dieser Glaubensbewegung gehörte er an. Dies war wohl auch der Grund für seine Festnahme, denn die Nazis beäugten diese argwöhnisch.

Viele Familien haben den Schülern bereitwillig und gerne von dem Verstorbenen erzählt und so die Recherchearbeit erleichtert. Aber dieses Glück hatten nicht alle Schüler: "Ich habe mich schwer getan mit der Recherche und kaum Infos gefunden", bekennt Lena Althaus freimütig. "Trotzdem bin ich froh, dass ich das Gedächtnisbuch erweitern konnte." Eine türkische Schülerin aus Bamberg, die sich um das Leben eines jüdischen Religionslehrers gekümmert hat, musste feststellen, dass es Angehörige gibt, die keinen Kontakt wünschen. "Sie sind der Meinung, dass die schrecklichen Erlebnisse im KZ, der Verlust des Vaters und die Deportation einiger naher Verwandter Schuld am frühen Tod von Paul Possenheimer war", erklärt Gülperi Yardimci. Zu stark waren die Verletzungen. Erstaunt zeigte sich indes der frühere Politiker Bökel, der in Frankreich recherchierte und entgegen aller Befürchtungen auf offene Türen stieß. "Die Leute fanden es sogar gut, dass sich ein Deutscher für das Thema interessiert", berichtet er.

Aber was macht die Arbeit an den Gedächtnisblättern mit den jungen Leuten? Dieser Frage ist Organisatorin Sabine Gerhardus nachgegangen. "Der Schutz von benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist mir jetzt wichtiger geworden", hat ein Jugendlicher ihr einmal geantwortet. Ein anderer sagte: "Ich bin jetzt sehr viel intoleranter gegenüber Rechtsextremisten geworden und toleranter gegenüber anderen Religionen." Die Freisinger Schülerin Nina Augustin zitiert zu Beginn ihrer Präsentation den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker: "Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart." Sie sagt, das war der Ausgangspunkt ihrer Recherchen, ihr Antrieb. Es ist wohl auch das Ergebnis ihrer Arbeit.

© SZ vom 01.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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