Nachruf:Der Farbvermähler

Der Zeitzeuge und Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, Max Mannheimer, hat die Veröffentlichung seines Kunstbandes noch erlebt. Er bietet einen Überblick über sein gesamtes künstlerisches Schaffen. Eine Würdigung von Gottfried Knapp

Neuer Aufbruch ist der Titel des Gemäldes, das wir eingangs betrachten wollen. Dieser Name mag den Charakter des Bildes treffen, bleibt aber emotional weit hinter dem zurück, was der Betrachter erlebt, wenn er sich auf die farblichen Ereignisse einlässt. Eine Bombe scheint auf der Leinwand zu explodieren, ein Keil schlägt von oben in weiche Materien ein. Ein phallusartiges Gebilde wühlt sich durch die Grundfarben Grün, Gelb und Schwarz. Man kann diese dynamische Bewegung der Elemente aber auch in umgekehrter Richtung erleben, von unten nach oben: als ein urtümliches Wachsen und Sprießen aus einem mächtigen Zwiebelgewächs heraus, als ein chlorophyllgrünes Feuer, dessen Flammen wild in die Höhe züngeln, als einen Vulkanausbruch, der farbige Lava, aber auch Ruß und Rauch in die Atmosphäre speit. Das alles passiert in der rechten Bildhälfte. Die linke Bildhälfte erweckt ganz andere Assoziationen.

Eine undurchdringlich schwarze Materie hat sich dort wie ein Ölfilm breitgemacht. Die hellen Partnerfarben Grün und Gelb, die auf der rechten Seite beim Ineinanderspielen ein mitreißendes Tempo gewinnen, können sich hier nur in Schlieren auf der schwarzen Masse behaupten. Die emotionalen Unterschiede und die motorischen Gegensätze zwischen den beiden Bildhälften sind also heftig. Sucht man in der Geschichte der abstrakten Malerei nach ähnlich elementaren Kraftentladungen, nach ähnlich konvulsivischen Farbverschlingungen, wird man nur ganz entfernt Vergleichbares finden. Versucht man aber den Schöpfer dieses aufregenden Bildes irgendeiner künstlerischen Gruppierung, einer Schule oder einem Zeitstil zuzuordnen, wird man gänzlich scheitern.

Der Maler Max Mannheimer liefert mit seinem bildnerischen Werk wohl den schönsten Beweis für die Behauptung, dass Außergewöhnliches nur dort entsteht, wo ein Individuum ganz ohne fremde Anleitung zu sich selber findet. Freilich: Ganz ohne Anregung von außen hätte sich das Werk dieses kreativen Autodidakten sicher nicht so kraftvoll entwickeln können, wie wir es heute erleben. Den Anstoß zum gegenstandsfreien Experimentieren mit Farben hat Max Mannheimer bekommen, als er im Jahr 1958 mit seiner damaligen Frau, einer Münchner Kulturstadträtin, zur festlichen Übergabe der von Gabriele Münter gestifteten Hauptwerke des Blauen Reiters ins Münchner Lenbachhaus eingeladen war und in der dafür eingerichteten Ausstellung zum ersten Mal abstrakte Gemälde von Wassily Kandinsky sah. Er war überwältigt von der bezwingenden Kraft dieser gegenstandslosen Farbkompositionen. Ja, er empfand diese Erstbegegnung mit quasi zweckfrei aufeinander reagierenden Farbfeldern wie einen persönlichen Auftrag: Plötzlich entdeckte er eine Möglichkeit, mit der spezifischen Eigenbegabung zu etwas Höherem vorzudringen, nun wusste er, in welche Richtung er als Maler weiterdenken konnte.

Nachruf: Ein Schlüsselwerk ist das Bild "Neuer Aufbruch" von 1996 (Bildausschnitt).

Ein Schlüsselwerk ist das Bild "Neuer Aufbruch" von 1996 (Bildausschnitt).

(Foto: Toni Heigl)

In den vier Jahren zuvor hatte Max Mannheimer schon eine ganze Reihe bildnerischer Versuche unternommen. Doch sie waren eher therapeutischer als künstlerischer Natur gewesen. Als Überlebender des Holocaust, als Hinterbliebener einer schon kurz nach der Ankunft im KZ Birkenau ausgelöschten jüdischen Familie und als Arbeitssklave in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und Dachau hatte Mannheimer alle Kreise der Hölle durchschritten. Nach dem Krieg versuchte er den immer wieder in Schüben anbrandenden, quälenden Erinnerungen etwas Positives entgegenzusetzen. Obwohl er bis dahin keine Neigung zur Malerei gezeigt hatte, kaufte er sich Farben und begann populäre Fotomotive möglichst naturalistisch getreu abzumalen. Doch Ruhe war damit nicht zu gewinnen. Lange Zeit konnte er den bedrängenden Bildern des Schreckens nur entfliehen, wenn er sich im Kino mit fremden Geschichten zudeckte. Von den in den fünfziger Jahren zur Ablenkung gemalten gegenständlichen Bildern hat Mannheimer nur den allerersten Versuch aufbewahrt. Er zeigt eines der beliebtesten deutschen Fotomotive jener Jahre in naturalistischer Korrektheit: den Königssee in den bayerischen Alpen mit der steilen Ostwand des Watzmanns im Hintergrund und der knorplig rot überkuppelten Kapelle St. Bartholomä im Vordergrund.

Dieser Erstling lässt eine nachschöpferische Begabung erkennen, macht aber den Abstand zu den späteren Werken den abstrakten Farbkompositionen, überdeutlich. Immerhin scheint das aus einem Esso-Kalender abgemalte Motiv den autodidaktisch sich weiterbildenden Kunstjünger so bestärkt zu haben, dass er anschließend Klassiker der Moderne studierte. Er kopierte Bilder von Georges Braque, Marc Chagall, Pablo Picasso oder Lyonel Feininger und verschaffte sich so als Maler ganz allmählich die praktische Erfahrung, auf die er dann später zurückgreifen konnte, als er sich von seinen Vorbildern lossagte, mit neuen Techniken experimentierte und stilistisch eigene Wege beschritt. Welch beachtliches darstellerisches Können Mannheimer sich schon in den Fünfzigern erworben hatte, zeigt der Gefangenenzug in der Nacht von 1955, das einzige Gemälde, in dem er versucht hat, die durch das Gedächtnis spukenden Schrecken der Gefangenschaft und des Krieges mit Ölfarbe und Pinsel zu bannen. Unter einem blutig rot entflammten Nachthimmel rollt die mit aufwühlenden Strichen hingesetzte anonyme Masse des Gefangenenzugs an einem Lagerzaun entlang nach vorne.

Wo der gespenstische Feuerschein am Himmel herkommt, bleibt im Ungewissen: Brennt dort hinten eine Stadt, oder werden in den hochofenartigen Klötzen am Horizont die Leichen von Lagerinsassen verbrannt? Signiert hat Max Mannheimer dieses Erinnerungsbild mit den hebräischen Buchstaben seines Namens. Gewidmet ist es seinem Bruder Edgar, der mit ihm die Lager überlebt hatte, an die Vergangenheit aber nicht mehr erinnert werden wollte. Später, nach der Begegnung mit Kandinsky und nach dem Beschluss, nur noch abstrakt zu malen, hat Max seine Bilder und Zeichnungen ausschließlich mit dem Künstlernamen ben jakov (Sohn Jakobs) signiert. Sein künstlerisches Werk war also von jenem Tag an seinem im KZ ermordeten Vater Jakob gewidmet. Was Mannheimer nach seiner Entdeckung der abstrakten Kunst als Maler und Zeichner unternommen hat, kann man nur als ein einziges großes Experiment, als ein unermüdliches Suchen und ewiges glückliches Finden fundamental bezeichnen.

Nachruf: Max Mannheimer alias "ben jakov" beim Malen. Er signiert gerade ein fertiges Gemälde.

Max Mannheimer alias "ben jakov" beim Malen. Er signiert gerade ein fertiges Gemälde.

(Foto: Toni Heigl)

Das eingangs betrachtete Gemälde "Neuer Aufbruch" hat bereits den grundsätzlichen Unterschied zwischen Mannheimers Art, mit Farben umzugehen, und den seit Jahrtausenden üblichen Malmethoden erahnen lassen. Mannheimers Bilder sind nicht primär mit bekannten Gerätschaften wie Pinsel, Stift, Bürste, Schaber, Spachtel oder Walze angefertigt worden. Die aufgetragenen Farben stapeln sich bei ihm nicht zu dicken Reliefs; nein, sie scheinen sich auf der Malfläche selber in Bewegung gesetzt zu haben, sie fließen auf quasi kreatürliche Weise ineinander, sie vereinen und vermischen sich zu bislang nie gesehenen Formen. Für diese Arbeitsweise hat Mannheimer eine Formulierung gefunden, die den Unterschied zur konventionellen Malerei auf wunderbar poetische Weise in Worte fasst: "Ich male nicht, ich vermähle die Farben." Und tatsächlich hat er mehrere Methoden gefunden, wie er die Farben so lange in Bewegung hält, bis sie zu Formen oder farblichen Zwischentönen zusammengeflossen sind, die seinen bildnerischen Ansprüchen gerecht werden.

Max Mannheimer starb am 23. September im Alter von 96 Jahren.

Der Kunstband "Max Mannheimer - The Marriage of Colours" ist im Hirmer-Verlag in der Reihe der "Edition Jürgen B. Tesch" erschienen. Der Kunstband kam auch auf Initiative der Dachauer Karmeliter-Schwester Elija Boßler zustande. SZ-Kunstkritiker Gottfried Knapp würdigt darin die künstlerische Bedeutung von Max Mannheimer.

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