Mitten in Dachau:Die Entdeckung der Geruhsamkeit

Zwei extreme Lebensentwürfe treffen auf der Martin-Huber-Treppe aufeinander: Menschen im Fitnesswahn - und eine dicke Katze

Von Gregor Schiegl

I m vergangenen Jahr vermeldete der Deutsche Fußballbund den höchsten Mitgliederstand seiner Geschichte - mehr als 6,8 Millionen Fußballbegeisterte hat das Land. Aber was ist das schon gegen das wachsende Heer der Fitnessbegeisterten? Inzwischen rackern sich neun Millionen Menschen regelmäßig in deutschen Fitnessstudios ab. Ja, neun Millionen! Man trifft sie auch unter freiem Himmel, zum Beispiel an der Martin-Huber-Treppe. An manchen Tagen sind es ganze Gruppen, die in neonbunter Kleidung zum Sturm auf die 102 Stufen ansetzen. Scheinbar mühelos fliegen sie die Treppen zum Altstadtberg hinauf, sausen wieder hinunter, rennen kunstvoll Slalom um verschreckte Omis mit Einkaufstaschen, die sie - o Grausamkeit der Jugend - gleich mehrfach überrunden. Natürlich klebt das iPhone am Arm, die App mit dem Pulsmesser ist eingeschaltet, danach kommt der Kalorienzähler.

Das Gegenmodell zu diesem Leben voller Anstrengungen und Entbehrungen verkörpert die übergewichtige bunte Katze, die diesen Wegabschnitt schon vor Jahren in Besitz genommen hat. Wenn sie nicht auf der Mauer schläft oder sich ein üppiges Menü servieren lässt - das besorgt ihr eine fürsorgliche Dame bei jedem Wind und Wetter - fläzt das faule Vieh auf den Stufen. Dort schnurrt es völlig unproduktiv und blockiert die Passanten, nötigt sie, den eiligen Schritt abzubremsen. Zwingt sie innezuhalten und vorsichtig an der pelzigen Hedonistin vorbeizuschleichen. Oder stehen zu bleiben und sie zu streicheln. Die Treppe mit felinem Entschleunigungsaggregat - eigentlich ideal für den gestressten Büromenschen. Sofern er keine Katzenhaarallergie hat.

Warum beneiden wir eine moppelige Katze mehr als all die Sportskanonen, die aussehen, als wären sie einer Müsliwerbung entsprungen? Ist es die souveräne Scheiß-drauf-Attitüde? Die selbstherrliche Ignoranz? Dieses tief verinnerlichte Carpe diem, das die Katze in jenem Glücke ruhen lässt, dem wir nur hinterhetzen? Wir sollten uns einfach mal unter dem Schreibtisch zusammenrollen und schauen, was passiert. Vielleicht stellt man uns ja was Leckeres hin, vielleicht krault man uns hinterm Ohr. Aber wahrscheinlich kassieren wir nur einen Anschiss. Wir armen Schweine.

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