Mentor, Vaterfigur, Vorbild:"To be a Mensch"

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Warum der Psychiater und KZ-Überlebende Viktor Frankl eine Lichtgestalt war und ist. Ein Symposium in Dachau.

Von Anna-Sophia Lang, Dachau

Eigentlich wollte Walter Kohl gar nicht darüber sprechen. Dann tut er es doch. Er erzählt davon, wie er vor über zehn Jahren sein Leben bereits aufgegeben hatte. Wie er geplant hatte, von seinem Tauchgang in Ägypten nie zurückzukehren. Die CDU-Parteispendenaffäre, in die sein Vater verwickelt war, der Selbstmord seiner Mutter in seinem Kinderbett, die Scheidung von seiner Frau - Kohl konnte nicht mehr.

"Ich sah keinen Sinn mehr, mein Leben war pulverisiert", sagt er. Vor mehr als 300 Zuhörern sitzt er auf dem Podium im Schloss Dachau, die Hände in seinem Schoß aneinander gepresst. Was er erzählt, geht ihm nahe. Der massive Mann wirkt zerbrechlich. "Innerlich war ich aus dieser Welt schon weg."

Die Rettung fiel ihm ganz zufällig in die Hände. Eine Frauenzeitschrift, die auf seinem Wohnzimmertisch lag. Auf der Suche nach einem Kreuzworträtsel blätterte Walter Kohl darin herum. Bis ihm ein Satz ins Auge stach. "Trotzdem ja zum Leben sagen" stand da auf einer Seite geschrieben. Der Titel des Buches, in dem der weltberühmte Psychiater Viktor Frankl seine Erlebnisse im KZ verarbeitet hat.

"Es war, als hätte man mir ein Starkstromkabel an den Kopf gesetzt", sagt Kohl. Zwölf Mal las er die rund 200 Seiten des Buches in der darauffolgenden Woche. Sie veränderten sein Leben. "Als ich las, was Frankl schrieb, habe ich mich geschämt", erzählt Kohl, "geschämt, dass ich mein Leben nicht auf die Reihe kriege, hier, immer wohlgenährt, in meinem schönen Haus".

Über Frankls Biografie fand er zur Logotherapie, der Schule der Psychologie, in der die Versöhnung die Wurzel der seelischen Heilung ist. In der das oberste Ziel ist, die eigene Freiheit und Verantwortung zu erkennen und zu nutzen. "Daraus entstand ein Licht, das mich in ein neues Leben geführt hat", sagt er auf der Gedenkveranstaltung zu Ehren von Viktor Frankl, das den Titel seines berühmten Buches als Motto übernahm.

Fast 70 Jahre vorher, im September 1945, ist auch Viktor Frankl am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Im April aus dem Außenlager des KZ Dachau in Türkheim befreit, hat er bei seiner Rückkehr nach Wien erfahren, dass seine geliebte Frau Tilly im KZ Bergen-Belsen umgekommen ist. In einem Brief schreibt er: "Im Lager glaubte man schon, den Tiefpunkt des Lebens erreicht zu haben - und dann, als man zurückkam, musste man sehen, dass alles nicht dafür gestanden, dass das, was einen aufrecht erhalten, zunichte geworden ist, dass man zur Zeit, als man wieder Mensch geworden ist, noch tiefer, in ein bodenloseres Leiden sinken konnte."

Doch selbst in diesem Moment, als ihm das Leben dunkler als je zuvor erscheint, hat Frankl Hoffnung. "Ich sehe zunehmend ein, dass das Leben so unendlich sinnvoll ist, dass auch im Leiden und sogar im Scheitern noch ein Sinn liegen muss", schreibt er in demselben Brief. Frankls Trost: Er hat die Möglichkeiten, die sich ihm geboten hatten, verwirklicht. Seine Frau ist tot, doch was bleibt, ist die glückliche Zeit gemeinsam.

Schon damals erkennt Frankl das Wesen der Menschen: Die Freiheit und gleichzeitig die Verantwortung, zu entscheiden, wie er mit dem eigenen Leben umgeht. "Der Mensch ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber er ist zugleich das Wesen, das in diese Gaskammern gegangen ist, aufrecht und mit der Marseillaise oder mit einem Gebet auf den Lippen."

In den schmerzvollsten Jahren seines Lebens legt Frankl den Grundstein für seine Theorie, die das Leben so vieler Menschen verändern sollte und ihn zu einem der berühmtesten Psychiater der Welt machte. Die zu hassen, die ihm seine Familie genommen hatten, wäre ein Leichtes gewesen - und verständlich obendrein. Frankl sprach stattdessen von Versöhnung, schon kurz nach seiner Befreiung.

David Guttmann hat er damit den Weg in ein neues Leben gezeigt. "Bevor ich Frankl traf, war ich von Hass auf die Deutschen und auf alles Deutsche erfüllt", sagt der inzwischen 83-Jährige, der als Junge im Budapester Ghetto leben musste. "Er hat mir klar gemacht, dass es keine kollektive Schuld gibt." Für Guttmann ist Frankl, der schon vor seiner Deportation im Wiener Rothschild-Spital viele Menschenleben rettete, ein Held.

Gern gehört hat Frankl solche Ehrenbekundungen nicht. Eitelkeit zählte nicht zu seinen Eigenschaften. "Jede Ich-Bezogenheit war ihm fremd", sagt Elisabeth Lukas, die berühmte Logotherapeutin. Inhalte, sagt sie, seien ihm wichtiger als der Wirbel um seine Person gewesen. Uwe Böschemeyer hat das am eigenen Leib erlebt. Als der Autor und Theologe Frankl als junger Student zum ersten Mal gegenüber stand, war er eingeschüchtert.

"Ich fragte mich, wie soll das werden, der große Mann und der kleine Mensch aus Hamburg." Aus der einen Stunde Gesprächszeit, die Böschemeyer sich erhofft hatte, wurden zwölf. "Ich fuhr nach Hamburg zurück in dem Gefühl, gewachsen zu sein."

Viktor Frankl starb am 2. September 1997. Logotherapeutin Nina Radtke, die extra aus Hildesheim angereist ist, wurde von Elisabeth Lukas ausgebildet und kennt die Familie Frankl. Enkel Alexander teilte ihr damals den letzten Satz seines Großvaters auf einer Postkarte mit: "Die Situation entbehrt der Tragik." "Ein typischer Frankl-Satz", sagt Radtke, "so hat er gelebt, so ist er gestorben. Konsequent."

Der KZ-Überlebende David Guttmann aus Haifa fasst Frankls Lehre in einer Mischung aus Englisch, Jiddisch und Deutsch zusammen: "To be a Mensch." Frankl war Mentor, Vaterfigur, Vorbild. Doch mehr als alles andere war er Sinnstifter. Einer, der tiefes Leid erlebte, aber trotzdem Sinn suchte, sah und es sich zur Lebensaufgabe machte, ihn anderen zu geben. Walter Kohl hat er damit das Leben gerettet. Als der im Schloss gefragt wird, wie er sich bei Frankl bedanken würde, wäre dieser im Raum, ist seine Antwort kurz. "Lieber Herr Professor, ich bin Walter Kohl, wir kennen uns nicht. Darf ich Sie in den Arm nehmen? Dankeschön."

© SZ vom 31.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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