Max-Mannheimer-Platz wird eingeweiht:Die Stimme der Wahrheit

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Landtag und Stadt Dachau erinnern an den Zeitzeugen Max Mannheimer. Die Gedenkfeiern werden vom erstarkten Antisemitismus im Land überschattet

Von Helmut Zeller, Dachau

Kaum ein Tag ist seit dem 23. September 2016 vergangen, an dem Nobuya Otomo nicht an den Mann gedacht hat, der sein Leben veränderte. "In Gedanken mit Max sprechend - ich sitze mit ihm am Flussufer der Sola - übersetze ich sein Buch weiter." Für seine Übersetzungsarbeit an dem Buch "Max Mannheimer. Drei Leben" ist der 55-jährige Germanist und Hochschullehrer vom japanischen Morioka im April wieder nach Auschwitz gereist. Die Sola fließt durch die Stadt Oświęcim in der Nähe des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und mündet nordöstlich der Stadt bei dem Dorf Broszkówice nach ungefähr 80 Kilometern in die Weichsel.

An die Sola hatte Max Mannheimer, der vor einem Jahr im Alter von 96 Jahren gestorben ist, lebhafte Erinnerungen. In Oświęcim verbrachte er 1936 als 16-Jähriger eine Woche Ferien. Er schwamm in der Sola, aß Eis in der Eisdiele des Städtchens mit etwa 12 000 Einwohnern, mehr als die Hälfte davon waren Juden, und begegnete der Schneidertochter Sala Bachner. "Sie hatte rote Bäckchen, schwarze Haare und ein fein geschnittenes Gesicht. Ich verliebte mich unsterblich in sie." Es gab Lachen und Liebe in Oświęcim - damals, in einer anderen Welt. Heute, 72 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee, erscheint einem das Flüsschen Sola mitsamt der idyllischen Landschaft wie ein schreiender Betrug.

Das Areal zwischen Wirtschaftsschule Scheibner und Stadtbücherei hat bisher keinen Namen

Zum ersten Todestag des Vorsitzenden der Lagergemeinschaft Dachau und Vizepräsidenten des Comité International de Dachau (CID) wird die Stadt am Donnerstag, 21. September, den Platz am ehemaligen Moorbadgelände an der Münchner Straße nach Max Mannheimer benennen. Das Areal zwischen Wirtschaftsschule Scheibner, Stadtbücherei, Studentenwohnheim und Stadtarchiv hat bisher keinen Namen. Gewisse Bedenken gab es zwar, da das historische Moorbad, wie alteingesessene Dachauer erzählten, im Zweiten Weltkrieg als Entbindungsheim für Ehefrauen oder Geliebte von SS-Männern gedient haben soll. Aber über diesen Umstand hätte der gewitzte und kämpferische Zeitzeuge wahrscheinlich geschmunzelt: dass dieser Platz nun seinen Namen trägt, steht für den Sieg über die Nationalsozialisten, die das europäische Judentum auslöschen und vergessen machen wollten.

"Von nun an hatten wir keine Namen mehr, sondern waren für unsere Bewacher nur noch Nummern. Edgar war 99 727, ich 99 728 und Ernst 99 729. Es fehlte nicht viel bis 100 000. Wo waren die Menschen mit all diesen Nummern? Was war aus ihnen geworden? Was aus unseren Familienangehörigen? Und was würde aus uns selber werden?" Vier Tage vor seinem 23. Geburtstag am 6. Februar 1943 ist Max Mannheimer mit seiner Familie in einem Deportationszug von Theresienstadt in Auschwitz-Birkenau eingetroffen. An der Rampe werden die Mannheimers aus dem nordmährischen Neutitschein selektiert: Die SS treibt die Eltern Jakob und Margarethe und seine Frau Eva gleich nach der Ankunft am 2. Februar ins Gas.

Unermüdlicher Einsatz für die Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus

Die Schwester Käthe wird später ermordet, auch sein Bruder Ernst, der im Lager erkrankt. Der Bruder Erich war bereits früher von der Gestapo verhaftet worden und überlebte den Terror nicht. Nur Max Mannheimer und sein jüngster Bruder, Edgar, überleben den Massenmord an den europäischen Juden - mit sechs Millionen Toten. Auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München stehen auf Max Mannheimers Grabstein zum Gedenken auch die Namen seiner ermordeten Familienangehörigen. Viel ist über sein drittes Leben - das er mit unglaublichem Mut und verwundeter Seele dem Schrecken abgerungen hat - geschrieben worden; über seinen unermüdlichen Einsatz für die Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus, seine Werke als Maler "ben jakov" (Sohn des Jakobs), die in seinen letzten Lebensjahren viel Anerkennung fanden, sein in mehr als 20 Sprachen übersetztes "Spätes Tagebuch", das zum Kanon der Holocaust-Literatur gehört.

Zeitzeuge Max Mannheimer präsentiert 2016 in München den Bildband "Max Mannheimer: The Marriage of Colours". (Foto: Robert Haas)

Nobuya Otomo, der an der Universität Tübingen promovierte, hat es 2009 ins Japanische übertragen. Otomo, dessen Land ein Verbündeter Hitler-Deutschlands war, wollte, dass sich auch die jungen Japaner mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust auseinandersetzen. "Ich erzählte immer mit Stolz, dass ich mit Max seit vielen Jahren sehr gut befreundet bin. Max hat mir öfters E-Mails geschickt, und ich habe sie mit großer Freude gelesen. Für mich sind diese Mails und die Artikel, die er mir schickte, ein großer Schatz."

Herz und Kopf der KZ-Gedenkstätte

Max Mannheimer war Herz und Kopf der KZ-Gedenkstätte Dachau. Mit der damaligen Leiterin, Barbara Distel, kämpfte er diplomatisch geschickt und unbeirrbar für den Fortbestand der Einrichtung, die seit ihrer Gründung 1965 bis in die späten 1990er Jahre von Dachauern und einem Teil der Stadtpolitiker angefeindet wurde. In den Jahren 1996 bis 2003 entstand eine neue Dokumentationsausstellung unter dem Leitmotiv "Der Weg der Häftlinge". 2005 wurde der historische Eingang zum Häftlingslager durch das Jourhaus eröffnet. 2011 verlieh ihm die Stadt Dachau auf Betreiben der SPD die seltene Ehrenbürgerwürde. Der Sozialdemokrat Max Mannheimer mischte sich in die Politik ein: Er warb für ein Verbot der NPD, kämpfte gegen eine wissenschaftlich kommentierte Neuauflage von Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf" oder kritisierte den verlogenen Umgang mit der Geschichte.

Zu seinem 70. Geburtstag schrieb ihm seine langjährige Wegbegleiterin Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, in einem Brief: Du bist derjenige, der "der Jugend als Zeitzeuge die Augen öffnet, welche Verbrechen, im Namen des deutschen Volkes und mit welch erschreckender Teilnahmslosigkeit eben dieses Volkes, an uns Juden geschehen konnten". Und sie würdigte auch Mannheimers Wirken für den Aufbau eines jüdischen Lebens in München und Bayern: "Was wären die Juden und die Kultusgemeinde München ohne Männer Deiner Art und ohne Säulen, an denen andere Halt und Vorbild finden, von denen man weiß: Sie sind da, du kannst dich auf sie verlassen."

Einer wie Max Mannheimer fehlt gerade auch in dieser Zeit. Die Zahl antisemitischer und antiisraelischer Delikte nimmt in Deutschland zu. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Abgeordneten Volker Beck (Grüne) hervor. Demnach wurden im ersten Halbjahr 2017 insgesamt 681 derartige Delikte erfasst, vier Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2016. Die Zahl der Gewaltdelikte sowie der Fälle von Volksverhetzung stiegen an. "Das entspricht leider der alltäglichen Erfahrung in unseren Gemeinden", kommentiert Charlotte Knobloch.

Der Platz auf dem Moorbadgelände an der Münchner Straße in Dachau trägt Max Mannheimers Namen. (Foto: Toni Heigl)

Die Zahlen sind noch erschreckender, führt man sie sich im Verhältnis zur kleinen Zahl der jüdischen Bevölkerung in Deutschland vor Augen. Knobloch schätzt die Dunkelziffer der Delikte weit höher ein, "weil sich viele über die Jahre antrainiert haben, solche Vorfälle zu ertragen, zumal die Anzeige meist im Sande verläuft". 1933 lebten in Deutschland etwa 570 000 Juden, heute zählen nach der Einwanderung aus ehemals sozialistischen Ländern die Gemeinden etwa 100 000 Mitglieder.

Auf mehreren Veranstaltungen wird in diesen Tagen an Max Mannheimer erinnert. Die Landtagsfraktion der SPD lädt am Sonntag, 24. September, um elf Uhr zu einer Matinée ein, an der auch Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) teilnimmt. Wie Fraktionsvorsitzender Markus Rinderspacher sagt, will man der Frage nachgehen, wie das Vermächtnis Max Mannheimers weitergetragen werden kann und wie es um die Zukunft der Erinnerung bestellt ist. Auch der Bayerische Landtag möchte, wie es in einer Pressemitteilung heißt, die Erinnerung an den großen Zeitzeugen wachhalten. Am Donnerstag, 28. September, gibt es dazu um 19 Uhr eine Veranstaltung in der Bibliothek des Landtags. Unter anderem liest die Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU) aus dem "Späten Tagebuch". Der CSU-Abgeordnete und Direktor der Gedenkstättenstiftung, Karl Freller, erklärt: "Der Blick auf seine Lebensgeschichte und sein außergewöhnliches Lebenswerk sollte Mahnung und Auftrag sein, sich für Frieden und Versöhnung und gegen Extremismus einzusetzen."

"Wir erleben eine ungeahnte Renaissance antijüdischer Ressentiments"

Die andere Seite: Der Grünen-Antrag im Bundestag, der eine Forderung unabhängiger Experten und des Zentralrats der Juden in Deutschland nach einem Antisemitismusbeauftragten unterstützte, haben im Juni alle Fraktionen nach einstündiger Debatte in die Ausschüsse verwiesen. Das Parlament hat es versäumt, dieses wichtige Zeichen noch in dieser Wahlperiode zu setzen. Dabei sei das Maß des Erträglichen längst voll, erklärt Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats. "Wir erleben eine ungeahnte Renaissance antijüdischer Ressentiments und Verschwörungstheorien. Die Tabus sind gefallen."

Das Versagen der politischen Eliten hat weitreichende Folgen: Die Straftäter sind zum einen Neonazis, aber der Antisemitismus wirkt bis in die Mitte der Gesellschaft. "Pegida und Co. sowie die AfD haben diesen Virus in Deutschland ausbrechen lassen. Der Hass, der im Internet längst keine Hemmungen mehr kennt, ist auf die Straße und dann in 13 Landesparlamente vorgedrungen. Nennenswerte Teile der Gesellschaft sind enthemmt, gerieren sich offen rassistisch, antisemitisch und antiliberal", urteilt Charlotte Knobloch. Das werde noch schlimmer, wenn die AfD, eine völkisch nationalistische Partei mit auch antisemitischen Parolen und Personen in den Bundestag einziehe, warnt sie. "Jude" ist wieder ein Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen und in Fußballstadien geworden. Jüdisches Leben ist nur unter erheblichen Sicherheitsvorkehrungen möglich. "Das ist bedrückend für die jüdische Gemeinschaft und beschämend für unser Land", so Charlotte Knobloch - doch Politik und μPresse reagieren auf diese Entwicklung unzureichend.

Er umarmte die ganze Welt

"Ich weiß, dass es eine Utopie ist, die Menschen verbessern zu wollen. Dennoch glaube ich an das Gute im Menschen", schrieb Max Mannheimer. Auch er wäre erschüttert und würde doch an seinem Glauben festhalten. Er, der einst Ausgestoßene und Verfolgte, umarmte die ganze Welt. Toleranz, Aufgeschlossenheit und Respekt schenkte er jedem, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft, Religion oder politischen Angehörigkeit - mit einer Ausnahme: Rassismus, Antisemitismus, Menschenverachtung sind keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Wer hätte geglaubt, dass ausgerechnet in Deutschland, im Land der Täter, das sich so viel auf seine "Vergangenheitsbewältigung" einbildet, Juden wieder Angst haben müssen.

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, warnt vor dem erstarkenden Antisemitismus. (Foto: Stephan Goerlich)

"Immer öfter sind wir Anwürfen und Anfeindungen ausgesetzt, die über die Diffamierung, Delegitimierung und Dämonisierung des jüdischen Staates transportiert werden. 'Israelkritik' ist zum Volkssport geworden, der Begriff steht jetzt sogar im Duden. Wie kein anderes Land wird Israel in Deutschland mit Genugtuung, Arroganz und unappetitlicher Überheblichkeit angeprangert und abgeurteilt", so Knobloch. Die Folge: Über das Vehikel Israel wird in Deutschland Antisemitismus wieder salonfähig. Schließlich: "Die muslimischen Verbände haben jahrzehntelang nicht nur nichts getan, sondern noch zugelassen, dass antisemitische Hassprediger die antijüdische Ideologie aus den muslimischen Ländern in deutsche Moscheen und die Köpfe der jungen Muslime hierzulande bringen", kritisiert Knobloch.

Auch Max Mannheimer litt daran. In einsamen Stunden war er der Erinnerung an Auschwitz und die Lager Dachau, Allach und Mühldorf ausgeliefert. Dann erhob er sich wieder und tat, was er so gut konnte: Er erzählte den Menschen die Wahrheit. Nobuya Otomo sagt: "Seine Geschichte wird weiter erzählt werden." Doch seine Stimme fehlt. Gerade jetzt.

© SZ vom 20.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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